Rom/Essen. Italien setzt bei der Europameisterschaft auf die Erfahrung und Härte von Kapitän Giorgio Chiellini. Der EM-Titel ist seine letzte Mission.

Hin und wieder geschehen im Spitzenfußball doch noch Dinge, die so absurd sind, dass sie nicht mal für Kreisliga-Anekdoten taugen. Weil diese Geschichte dem Erzähler sowieso niemand abkaufen würde. Eine davon geht so: Ein Trainer erkennt auf dem Spielberichtsbogen nur die Hälfte, da er seine Brille nicht auf der Nase hat. Er segnet die Aufstellung ab — und schon steht statt dem Mannschaftskapitän versehentlich der falsche Spieler in der Startformation. So passiert im Nations-League-Spiel zwischen Italien und Bosnien-Herzegowina im September 2020. „Es war mein Fehler“, gestand Roberto Mancini (56).

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Giorgio Chiellini wird hoffen, dass sein Trainer an diesem Freitag (21 Uhr/ARD) den Durchblick behält, wenn die Squadra Azzurra mit der Partie gegen die Türkei die Europameisterschaft vor 16.000 Zuschauern in Rom eröffnet. Es ist sein letztes großes Turnier. Im August wird Chiellini 37 Jahre alt. Ein Pokal mit der Nationalmannschaft fehlt ihm noch, genauso wie die Champions League. „Einen der beiden Titel zu gewinnen, wäre das i-Tüpfelchen meiner Karriere“, sagt Chiellini, der beim WM-Triumph 2006 noch zuschauen musste.

Chiellini hat die Trikotnummer von Paolo Maldini

Die ewige Stadt, der ewige Chiellini. Mit ihm wird dann auch einer der Letzten dieser großen italienischen Fußballer-Generationen das blaue Trikot ablegen. Chiellini war schon dabei, als Buffon hielt, Pirlo passte, Inzaghi schauspielerte. Seine Trikot-Nummer 3 trägt er zu Ehren Paolo Maldinis. Er spielt rustikal und kompromisslos – eben die alte italienische Verteidiger-Schule. Sogar im Training: 2008 grätschte er Kapitän Fabio Cannavaro aus dem EM-Kader.

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Es gibt verschiedene Gründe, warum Chiellini in dieser Fußball-Welt auffällt. Bei Juventus Turin reifte er zu einem der besten Verteidiger der Welt. Er prägte das vergangene Jahrzehnt, als Juve die nationalen Wettbewerbe dominierte, entscheidend mit. Und all das mit einem besonderen Spielstil: Heutzutage schlagen Innenverteidiger Pässe wie Spielmacher, streicheln den Ball wie Flügeltechniker, sprinten wie Leichtathleten. Chiellini dagegen hat bloß sein Stellungsspiel, den unbändigen Willen, die Zweikampfstärke. „Er ist eine Naturgewalt“, sagte Walter Mazzarri, sein früherer Trainer bei Livorno, über ihn. Er könne drei Gegner auf einmal verteidigen, er sei jemand, den jeder Trainer im Team haben wolle.

So auch Mancini. Der Verteidiger hatte nach der verpassten Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2018 schon hingeschmissen, da holte ihn der neue Trainer zurück ins Team. Obwohl Mancini die Italiener ja eigentlich vom fußballzerstörerischen Catenaccio abbringen wollte. Für die Kreativität müssen halt andere sorgen. Als Eckpfeiler in der Defensive ist Chiellini mit seinen fast 700-Profispielen neben Partner Leonardo Bonucci (34) unersetzlich.

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So beinhart Chiellini auf dem Feld sein mag – zu seinem Charakter passt seine Spielweise nur bedingt. Der 36-Jährige gilt als einer der reflektiertesten Profis. Viel lieber wäre er Basketballer geworden, die Los Angeles Lakers sind sein Lieblingsteam. Die Familie ist ihm heilig, bei ihr könne er sich an den „schönen und realen Dingen des Lebens erfreuen“. Vor vier Jahren machte Chiellini seinen Master in BWL an der Turiner Universität. In seiner Abschlussarbeit widmete er sich Juves internationalem Geschäftsmodell. „Das Leben nach der Spielerkarriere wird wunderbar sein. Aber du musst dich darauf vorbereiten, weil es das Risiko gibt, dass du 35 Jahre alt bist und nicht weißt, was du mit dem Leben machen sollst“, sagte er mal. Finanzielle Probleme oder Depressionen könnten folgen. „Fußballspielen können allein reicht nicht.“

Vertrag mit Chiellini bei Juventus Turin soll verlängert werden

Noch ist es ein wenig hin bis zum Karriereende. Auf Wunsch von Juve-Trainer Massimiliano Allegri soll sein Vertrag noch einmal um ein Jahr bis 2022 verlängert werden. Zu seinen 107 Länderspielen sollen im Optimalfall noch sieben bis zum Titel hinzukommen. Italien sei zwar nicht der größte Favorit, erklärte Chiellini, „aber es wird sich niemand freuen, gegen uns spielen zu müssen“. Die Atmosphäre im Team sei sogar „magisch“. Dabei zu sein, „belebt dich“. Chiellini ist top motiviert – man darf ihn nur nicht wieder übersehen.