Portimao. In Portimao an der Algarve gab es noch nie ein Formel-1-Rennen. Das Beispiel Mugello zeigt: Das tut dem Renngeschehen gut.

Die Einsamkeit umgibt Lewis Hamilton. Es ist Nacht, er steht mit seinem Elektro-Mercedes an einer Tankstelle und muss einen Reifen wechseln. Etwas triumphaler hätte er den Auftakt zum zwölften WM-Lauf vermutlich auch selbst gern gehabt, schließlich kann er mit einem weiteren Sieg den Rekord von Michael Schumacher übertreffen. Aber die Szene passt ganz gut zum Stimmungsbild, wenn die Formel 1 an diesem Sonntag (14 Uhr/RTL, Sky) erstmals in Portimao einen Großen Preis von Portugal austrägt: Es wird eine rasende Fahrt ins Ungewisse.

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Die wenigsten Menschen wissen wahrscheinlich noch, was sie im Januar 2009 getan haben? Den Protagonisten der Königsklasse geht es auch so. Ein paar Fahrer, auch Hamilton, haben im damals ganz neuen Autódromo Internacional do Algarve eine verregnete Testwoche absolviert. Mehr an Erfahrungswerten gibt es nicht, das ist für die Perfektionisten-Formel ein echter Albtraum. Oder eine wunderbare Herausforderung, je nach Sichtweise. „Ich finde es sehr stimulierend, auf einer neuen Strecke zu fahren“, sagt Sebastian Vettel. Auch für den Noch-Ferrari-Piloten hat die Sache aber einen Haken: Wer mit seinem Auto zu kämpfen hat, kann sich nicht allein aufs Kennenlernen verlassen. Noch nie gab es in einem Rennjahr so viele neue Strecken.

Die Formel 1 betritt erneut Neuland

Zum zweiten Mal in der Not-Saison betritt die Formel 1 echtes Neuland. Vor sechs Wochen in Mugello hat das zu ein paar Überraschungen geführt und zu einem spannenden, mitunter chaotischen Rennen. Auf dem Nürburgring vor zwei Wochen war der Druck auf die Piloten ebenso groß, nachdem der Trainingstag vom Eifelwetter verhindert worden war. Raus aus den eingefahrenen Ideallinien, das bleibt aber nicht auf Portimao beschränkt. Es geht munter so weiter: Schon am folgenden Wochenende kehrt der Tross ins italienische Imola zurück, wo seit 2006 nicht mehr gefahren worden ist – das Training entfällt, um ein Zwei-Tages-Rennformat auszuprobieren. Anschließend steht der Große Preis der Türkei auf dem Programm, letztmals 2011 ausgetragen. Und in Bahrain steuert im Dezember mit dem Sakhir Grand Prix noch ein neues Streckenlayout bei.

Hamilton geht demütig in das letzte Drittel des Rennjahres, das ihm den siebten Titel bescheren kann: „Es können noch so viele Sachen passieren in dieser verrückten Pandemie.“ Er meint das eher gesundheitlich, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Kanadier Lance Stroll am Nürburgring doch corona-positiv war. Aus traditionellem Aberglauben heraus redet bei Mercedes niemand davon, dass das Team rein theoretisch schon in Portugal die Konstrukteurs-WM gewinnen könnte.

Formel 1: Mick Schumacher wird um sein Testdebür bei Alfa Romeo gebracht

Für gewöhnlich sind schon vor der Anreise jeder Zentimeter Asphalt einer Rennstrecke ausgiebig analysiert worden, auf Basis schier unendlicher Daten aus den Vorjahren. Ein halbes Jahr vorher beginnt auf bekannten Strecken schon die Vorarbeit der Analysten, um die beste Fahrzeugabstimmung, die Reifenwahl und die Rennstrategie zu bestimmen. Die Trainingsfahrten sollen nur noch die Bestätigung für die Richtigkeit der Hausaufgaben liefern.

Lewis Hamilton in seinem Mercedes auf der Formel-1-Strecke in Portimao im Hinterland der Algarve.
Lewis Hamilton in seinem Mercedes auf der Formel-1-Strecke in Portimao im Hinterland der Algarve. © Getty

Diesmal aber müssen alle richtig viele Kilometer abspulen, weshalb auch das angedachte Testdebüt von Mick Schumacher bei Alfa Romeo ausfällt. Die Stammpiloten müssen ein Gefühl für die Piste bekommen und möglichst viele Daten für das Setup sammeln: von der Computer-Wissenschaft zurück zu mehr Handarbeit. Wer weiß schon, wie sich welche Reifenmischung auf dem frisch asphaltierten Kurs verhalten wird? Wie der Wind und das Wetter? Plötzlich werden die Strategen zwangsweise zu Wahrsagern. Mercedes-Teamchef Toto Wolff gefällt das prinzipiell: „Je weniger Testrunden, je weniger Daten, desto mehr Unberechenbarkeit und Abwechslung. Dann gewinnt nicht der Stärkste, sondern derjenige, der sich am besten anpasst. Also das innovativste Team und der Fahrer, der sich auf die Strecke und die Reifen am schnellsten einstellt.“ Sein Mercedes-Fahrer Lewis Hamilton ist darin einer der Besten, so wie es auch Michael Schumacher war. Der aktuelle Champion ist kein Freund der Simulation und schwänzt auch gern den Rundgang mit den Ingenieuren.

Formel-1-Teams investieren viel Geld in virtuelle Vorbereitung

Diesmal muss auch er die Vorbereitung intensivieren. Denn die Piste im Hinterland der Atlantikküste hat es in sich: eine wellige Berg- und Talbahn mit blinden Kurven, Haarnadeln und nur einer Vollgasgeraden. Natürlich kennen die meisten Fahrer den Kurs inzwischen, sie haben ausgiebige Testrunden im Simulator gegen die große allgemeine Verunsicherung absolviert. Das hat mit den herkömmlichen Computerspielen nichts zu tun.

Die Strategieabteilungen haben für viel Geld sogenannte Lidar-Karten erworben: hochakkurates, dreidimensionales Datenmaterial von der Topographie der Strecke. Auf diesen sind sogar die Randsteine und die Beschaffenheit der Oberflächen genau zu erkennen. Je genauer, je besser, um damit die künstliche Intelligenz zu füttern. Sie baut dann eine akkurate virtuelle Teststrecke für den ebenfalls komplett digitalisierten Rennwagen, den sogenannten Driver-in-Loop-Simulator. Den größten Unterschied zwischen einem virtuellen und einem echten Grand Prix benennt das britische Talent George Russell: „Im Simulator braucht man keine Angst haben.“