Essen. Immer weniger deutsche Talente schaffen den Sprung in die Fußball-Bundesliga. Hinter Kai Havertz klafft beim DFB eine große Lücke.

Wieder ist da ein frühreifer Fußballer, der in der Offensive seine Stärken hat, und wieder trägt er das Trikot von Bayer Leverkusen. Die Vergleiche zwischen Florian Wirtz, dem 17-Jährigen Jungprofi, und Kai Havertz, dem teuersten deutschen Spieler der Geschichte, liegen auf der Hand. Havertz, selbst erst in diesem Sommer 21 Jahre alt geworden, wird immer wieder genannt, wenn es um nicht weniger als die Zukunft des deutschen Fußballs geht. Bis zu 100 Millionen Euro war der FC Chelsea bereit, in ein Versprechen zu investieren, das vielleicht in ein paar Jahren das Prädikat „Weltklasse“ trägt.

Havertz – und dann? Schnell fällt der Name Wirtz, der seine erste volle Bundesliga-Saison spielt. Danach sieht es mau aus.

Chatzialexiou: Uns gehen Talente verloren

In der Bundesliga wimmelt es momentan an großen Talenten – in allen Klubs. Sie haben bei Champions-League-Sieger Bayern München einen Stammplatz, sie führen regelmäßig bei Borussia Dortmund ein Offensivspektakel auf, sie verteidigen bei RB Leipzig wie abgezockte Routiniers. Sie kommen aber nicht aus Deutschland.

In München ist es der 19-jährige Kanadier Alphonso Davies, bei Borussia Dortmund ist es eine ganze Reihe an Edel-Talenten: Erling Haaland (20), Norwegen. Jude Bellingham (17) und Jadon Sancho (20), England. Giovanni Reyna (17), USA. Bei RB Leipzig: Dayot Upamecano (21), Frankreich. Arne Maier (21), der Kapitän der deutschen U21-Nationalmannschaft, musste auf Leihbasis zu Arminia Bielefeld wechseln, weil ihm bei Hertha BSC die Spielminuten fehlen. Um Haaland und Sancho reißt sich dagegen halb Europa.

„Der Übergangsbereich ist ein sehr spezieller, sehr wichtiger -- in dem uns momentan viele Talente verloren gehen“, sagt Joti Chatzialexiou, Sportlicher Leiter der Nationalmannschaften, im Gespräch mit dieser Redaktion. „Wenn es zu den Profis geht, achtet ein Trainer ausschließlich auf die Qualität und nicht auf die Nationalität. Um wieder mehr deutsche Spieler in die erste Elf zu bekommen, müssen wir an ihren Fähigkeiten arbeiten.“

Kaum Spielpraxis für Kaderspieler

Dass der DFB in der Nachwuchsförderung im internationalen Vergleich abgehängt wurde, ist offensichtlich. Die Erfolge im U-Bereich liegen schon länger zurück: Die U21 wurde 2017 Europameister, die U19 aber war zweimal nicht für die Endrunde qualifiziert. Die U17 stand 2015 zuletzt im Endspiel. Mehr als zehn Jahre ist es her, dass die spätere Weltmeistergeneration des DFB Titel in allen Nachwuchsklassen gewann. Einige dieser Spieler sind noch nicht zu alt – was es für Nachrücker nicht einfacher macht.

Nun sind es andere Nationen, die auf große Generationen zusteuern: England, Frankreich, Spanien. Und in Deutschland fragt man sich, wer eigentlich nach Havertz kommt. Was machen die anderen anders und der DFB womöglich falsch?

Chatzialexiou sieht zwei Probleme

„Aus meiner Sicht war einer der größten Fehler, dass es seit 2014 nicht mehr verpflichtend ist, eine U23-Mannschaft zu haben, in der Nachwuchsspieler auf Einsatzzeit kommen“, sagt Chatzialexiou. Nur noch die Hälfte der Vereine hat in ihren Nachwuchsleistungszentren eine Reserve. Ein weiteres Problem sei die Vergrößerung des Spieltagskaders von 18 auf 20. „Unsere Talente sind so zwar bei den Profis dabei, erhalten aber kaum Spielpraxis, weil die Spiele der zweiten Mannschaften häufig parallel stattfinden.“

Seit 2012 betreibt der englische Fußballverband den St. George’s Park in den englischen Midlands. Zentral werden hier alle U-Nationalmannschaften betreut. Vorbild ist die französische Talente-Schmiede Clairefontaine, die schon die Weltmeistergenerationen 1998 mit Zinedine Zidane und 2018 mit Kylian Mbappé hervorgebracht hat. Das Ergebnis: Talente wie Phil Foden von Manchester City erspielen sich Stammplätze bei Vereinen der internationalen Klasse, obwohl gerade englische Klubs finanziell die Qual der Wahl hätten. Selbst Spieler, die wohl keine Weltkarriere hinlegen werden, sind in der Bundesliga begehrt. Anders ist auch kaum zu erklären, warum in den vergangenen Jahren so viele in Frankreich ausgebildete Spieler den Weg nach Deutschland gefunden haben.

Zwischenschritt im Ausland

Die deutschen Vereine wiederum sehen keinen Anlass, regional zu denken. Warum sollte etwa der BVB einen Spieler aus dem Ruhrgebiet einem talentierteren Engländer vorziehen? Im 21. Jahrhundert sind die Märkte dank Globalisierung und Kommerzialisierung unbegrenzt.

Der DFB baut in Frankfurt zwar gerade seine Akademie, eine zentralisierte Ausbildung wie die von Mbappé, der nur am Wochenende bei seinem Verein war, hält man allerdings nicht für den Lösungsweg. In Deutschland bleibt die Ausbildung Kernkompetenz der Vereine.

Deutsche Talente müssen sich Alternativen suchen, wenn sie sich im ersten Versuch nicht im Seniorenbereich etablieren. Für Niklas Dorsch, 22 Jahre alt und beim FC Bayern ausgebildet, ging es über Heidenheim zur KAA Gent nach Belgien. Und Robin Gosens empfahl sich in den Niederlanden für höhere Aufgaben in der Serie A. Dass sich der Trend fortsetzt, „wäre schade, kann aber durchaus passieren“, sagt Chatzialexiou. „Uns wäre es natürlich lieber, wenn unsere Nachwuchsspieler in Deutschland blieben.“ Ziel ist, in den kommenden Jahren die Einsatzzeiten U21-Jähriger zu verdoppeln.

Ist der BVB ein Vorbild?

Eine eigene Liga für U23-Mannschaften könnte vielleicht helfen. Die gibt es in England schon. Dies könnte verhindern, dass Talente in unteren Ligen oder bei Abstiegskandidaten landen. Chatzialexiou aber meint: „Für die Entwicklung der Talente ist es sicher auch förderlich, am Tivoli in Aachen oder in Essen gegen Erwachsene zu spielen.“

Die eine Lösungsmöglichkeit gebe es nicht. „Dafür ist das Thema zu komplex. Allerdings sollten wir in allen Vereinen explizite Ansprechpartner haben, die den Übergang unserer Talente in den Profibereich unterstützen.“ Zum Beispiel wie es der BVB mit Talente-Trainer Otto Addo macht. Chatzialexiou lobt: „Wie er seine Rolle lebt, ist ideal.“