Budapest. Mattia Binotto sollte Ferrari wieder zum Titel in der Formel 1 führen. Nur wie, das weiß niemand so richtig. Die Scuderia steckt in einer Krise.

Nach zwei Rennen in einem Not-Kalender schon von einer letzten Chance zu sprechen, zeigt die ganze Verzweiflung bei Ferrari. Die beiden Auftritte in Österreich haben gezeigt, dass die Scuderia einmal mehr hinterherfährt: der Konkurrenz und den eigenen Erwartungen. Vor dem Großen Preis von Ungarn an diesem Sonntag (15.10 Uhr/RTL und Sky) ist der stolze Rennstall nur die fünfte Kraft im Feld. Die Hoffnung gilt jetzt den langsamen Kurven in Budapest – das ist entlarvend. Noch einen Totalschaden im Ergebnis kann sich vor allem Teamchef Mattia Binotto nicht leisten. Auf ihn schießen sich enttäuschte Ferraristi, die Extremisten unter den Formel-1-Fans, ein.

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Dass seine Rennfahrer Charles Leclerc und Sebastian Vettel gleich in der ersten Runde kollidieren, dass sich diese Karambolage schon zum zweiten Mal in vier Rennen wiederholt – dafür kann Mattia Binotto nichts. Für alles andere schon. Der in Lausanne geborene und 50 Jahre alte Ingenieur ist auf dem Papier der mächtigste Mann der Boxengasse, Team- und Technikchef in einem. Vor allem ist er momentan ein einsamer Mann, denn die Alleinverantwortung ist wohl eine der Schwächen des Rennstalls, der nun schon 13 Jahre auf einen WM-Titel wartet, die zweitlängste Durststrecke der Historie. Unter normalen Umständen ist die Hoffnung auf Besserung gering. Der Mann mit der Harry-Potter-ähnlichen Brille gesteht, dass es für Probleme in der Formel 1 keinen Zauberstab gibt.

Vettel und sein Ferrari-Dienstwagen fahren nur hinterher

Sebastian Vettel, mit einem Teil seines Kopfes aufgrund der kolportierten Karrierefortsetzung vielleicht schon beim künftigen Arbeitgeber Aston Martin, glaubt nicht an ein Wunder auf dem Hungaroring. Die technischen Updates an seinem roten Dienstwagen hätten zwar funktioniert, „aber die große Wende sind sie nicht. Um ehrlich zu sein, wissen wir nicht genau, wo wir stehen.“ Die peinliche Kollision lenkte fürs Erste von den großen Versäumnissen des letzten Rennwinters ab, die Binotto zu verantworten hat. Weder in puncto Leistung noch Aerodynamik reicht der SF 1000 an die Erwartungen heran. Offenbar fehlt es an Ideen, Tempo oder an Durchsetzungskraft. Endresultat: Das springende Pferdchen lahmt.

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Dabei sollte diese Saison eine ganz besondere für Mattia Binotto werden. Er feiert in dieser schnelllebigen Branche eher seltenes Dienstjubiläum. 25 Jahre ist es her, seit er über die renommierten technischen Hochschulen in Lausanne und Modena zu Ferrari kam und in der Testabteilung des Rennteams sogleich die Motorenentwicklung verantwortete. Die ganz große Feier soll in diesem Herbst steigen, wenn die Scuderia ihren 1000. Grand Prix fährt, der eigens nach Mugello vergeben wurde und Großer Preis der Toskana genannt wird. Den Erfolgsdruck erhöht das noch.

Binotto wirkt bei Ferrari völlig überfordert

Mattia Binotto, der im letzten Jahr die Rückschläge noch meist weggelächelt hatte, ist ernster geworden. Dass er sich Ende 2018 im internen Konkurrenzkampf gegen den damaligen Teamchef Maurizio Arrivabene durchgesetzt hatte, und so zu Allmacht kam, ist nun sein Problem: Es brennt an allen Enden, wo zuerst löschen? Zumal mechanische und menschliche Probleme völlig unterschiedliche Lösungsansätze und damit Kompetenzen benötigen. Damit wirkt er überfordert. Zwei Führungsjobs in Personalunion, das gibt es auch nur bei Ferrari. Binotto hatte mit seinem Willen die Ferrari-Oberen überzeugt, auch mit seiner versöhnlichen Art. Arrivabene war der Mann der großen Geste, Binotto ist einer der großen Gedanken.

Offenbar verliert er sich gerade in seinen Visionen. Sein Irrlauf vergangenen Sonntag durch das Fahrerlager wirkt da sinnbildlich. Die Enttäuschung in Italien wird immer größer, die Fragen lauter, ob der Mann an der Spitze genügend Souveränität besitzt, das Team aus der Krise zu führen. Der Stolz bei Ferrari, der oft in Sturheit mündet, und die mangelnden personellen Alternativen könnten Binotto trotz des Unmuts bei Ferrari-Präsident Louis Camilleri vorerst retten. Diskutiert wird offenbar aber über eine neue Aufteilung von Zuständigkeiten.

Binotto hat von Schumacher gelernt, niemals aufzugeben

Eine Bilderbuchkarriere hat Kratzer bekommen. Binotto war als junger Ingenieur mit frischen Ideen eine der treibenden Kräfte in der großen Ära Anfang des Millenniums und wurde 2004 von der Testabteilung zum Chef-Ingenieur des Rennteams befördert. Sein Wissen, seine schnelle Reaktionsfähigkeit und sein Netzwerk in der gestione sportiva haben ihn die Karriereleiter aufsteigen lassen. Alle drei Jahre eine Beförderung, bis hin zum Technikdirektor im Sommer 2016 und zum Teamchef im vergangenen Januar. Zum Amtsantritt versprach er vor allem Beharrlichkeit: „Damit werden wir den Traum von Enzo Ferrari niemals enden lassen…“ Er zählt dazu alle jene Fähigkeiten auf, die wichtig sind, und die kaum anderthalb Jahre später so schmerzlich vermisst werden: Leidenschaft, Entschlossenheit, Integrität, Mut, Exzellenz. Er selbst blickt gern in die Zeit zurück, als Michael Schumacher zu Ferrari kam, von ihm habe er gelernt, niemals aufzugeben.