Sotschi. Die Nationalelf kämpft bei der WM gegen das frühe Aus und das Ende einer Ära – aber auch gegen eine Armada an Ex-Spielern.
Im Trainingslager in Südtirol bekam der deutsche Mittelfeldstratege Toni Kroos von einem Reporter einen Fragebogen hingehalten. „Wer wird Deutschlands schwerster Gegner bei der WM?“, war zu lesen. Kroos fragte zurück: „Steht da auch Deutschland drauf?“ Es wirkte damals, als habe er die Frage nicht verstanden.
Heute weiß man: Toni Kroos war seiner Zeit voraus.
Der Kontrahent für die deutsche Nationalmannschaft am Samstag (20 Uhr/ARD) heißt nicht wirklich Schweden. Der deutsche Gegner im zweiten WM-Spiel der Gruppe F heißt – Deutschland. Manuel Neuer und Toni Kroos, Thomas Müller und Mesut Özil und all die anderen Weltmeister spielen gegen sich selbst. Mental und faktisch.
Verliert Löws Elf, scheidet aller Wahrscheinlichkeit nach erstmals ein deutsches Männerteam bei einer WM in der Vorrunde aus. Es wäre eine Blamage für den Deutschen Fußball-Bund (DFB), dem größten Sportfachverband der Welt. Und es wäre eine sportliche Tragödie. Es geht in Russland nämlich nicht nur um die Titelverteidigung. Es geht um das sportliche Vermächtnis einer Spielergeneration, die sich in Teilen schon bei der U21-EM 2009 (übrigens in Schweden!) aufmachte, um die Fußballwelt zu erobern und ein Jahr später bei der WM in Südafrika dem oft angestrengten deutschen Fußball ein neues Gesicht zu verleihen: jung, multikulturell, erfolgreich.
Es geht um das Vermächtnis der U21-Sieger von 2009
Der DFB inszenierte diese „Internationalmannschaft“ als ein Muster für Integration in Deutschland. Auch deshalb bringt den Verband die Erdogan-Affäre um Mesut Özil und Ilkay Gündogan jetzt so nachhaltig ins Schwitzen.
Scheiden Kapitän Neuer und seine Kollegen nun aus, wären sie zwar immer noch Weltmeister von 2014. Aber sie würden die Bühne als hart gefallene Helden verlassen.
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Es wäre die Metamorphose einer Mannschaft: Von jungen Spielern mit Begeisterung, die nichts zu verlieren haben, hin zu einem Team der Erfolgsverwöhnten. Nicht mehr jung, nicht mehr begeisternd, zu sehr von sich überzeugt. So erging es Spanien vor vier Jahren.
Der zarte Umbruch müsste radikal ausfallen
Es steht noch einiges mehr auf dem Spiel. Der zarte Umbruch, den Bundestrainer Löw für die Zeit nach der WM angekündigt hat, müsste dann radikal ausfallen. Einige Weltmeister würden wohl zurücktreten. Aber auch Löw sollte Konsequenzen für sich ziehen – trotz eines gerade verlängerten Vertrages bis 2022. Es wäre das Ende einer Ära. Eine Mannschaft und ein Trainer, die Deutschland aufgrund der Fähigkeiten auf dem Platz und daneben hervorragend vertreten haben – würden abtreten. Es müsste ein Neuanfang her.
Gegen sich selbst spielen Neuer, Kroos und die anderen, weil der Erfolg von Rio die Vergleichsgröße ist. Von ganz oben nach ganz unten – der Weltmeister wäre bei einem Aus schlimm geschrumpft.
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Neuer und Co. spielen aber auch gegen sich selbst, weil es jetzt darum geht, sich noch einmal zu überwinden, den Gipfel erneut zu besteigen, auch wenn man schon mal oben war. Intern wird das als die größere Herausforderung gesehen als die gegnerischen Teams.
Gegen sich selbst spielt Deutschland zudem, weil derzeit eine Armada von Ex-Nationalspielern Angriffe fährt. Mario Basler, der sich mit 30 Länderspielen und zwei Toren nicht besonders um den deutschen Fußball verdient gemacht hat, attestierte Özil die Körpersprache eines „toten Frosches“.
Erster Tiefschlag nach 14 Jahren
Lothar Matthäus, Rekordnationalspieler und Weltmeister 1990, betreibt seine Eigen-PR, in dem er Özil unterstellt, sich nicht wohl im Nationaltrikot zu fühlen. Meint er denselben Mesut Özil, der in 91 Länderspielen 23 Tore erzielt und 40 Vorlagen geben hat?
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Der deutsche Fußball steht an einem Scheideweg. Es wäre nicht alles hinfällig, was Löw und Nationalelf-Direktor Oliver Bierhoff seit 2004 aufgebaut haben, sollte gegen Schweden das WM-Aus besiegelt werden. Aber es wäre ein Tiefschlag, von dem man sich erst einmal zu erholen hat.