Oberhausen. Sexualpädagoge Andreas Müller aus Oberhausen rät Eltern, das Smartphone des Kindes zu kontrollieren. Besitz von Jugend-Nacktvideos ist strafbar.
Finn und Lea haben gerade noch mit Lego gespielt, da tauchen schon über die Sozialen Medien Nacktbilder auf ihrem Smartphone auf. Das mag ein Albtraum für Eltern sein, aber keine Ausnahme mehr, wie eine Befragung von 3000 Jugendlichen der Landesanstalt für Medien NRW zeigt.
Bei immer mehr Mädchen und Jungen landen Pornos oder erotische Fotos auf dem Handy. Wir sprachen mit Andreas Müller, Sexualpädagoge und -therapeut aus Oberhausen. Was rät der Leiter der Beratungsstelle von Pro Familia den Müttern und Vätern?
Wie viele Kinder und Jugendliche schauen Nacktvideos?
Fast die Hälfte aller 11- bis 17-Jährigen haben in der bundesweiten Befragung angegeben, dass sie schon mal einen Porno gesehen haben. Mehr noch: Sie produzieren und verschicken sogar selbst pornografisches Material über das Handy.
Laut der Landesanstalt für Medien NRW sei insbesondere die Zahl der besonders jungen Kinder, die in Kontakt mit Pornos kommen, besorgniserregend gestiegen: mehr als ein Viertel der 11- bis 13-Jährigen. Im Vorjahr waren es noch 19 Prozent.
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Auch der Sexualpädagoge Andreas Müller, der in Schulen geht, um Jugendliche aufzuklären, beobachtet, dass sie immer mehr Kontakt zu Pornos haben. Sie stellten Fragen, die es erahnen lassen, zum Beispiel: „Ob es normal ist, mit ganz vielen Frauen Sex zu haben.“
Meist geschieht der erste Kontakt zu Pornos unfreiwillig, wie die Studie bestätigt. „Jugendliche tun so cool, aber diese Bilder sind einfach verstörend“, sagt der 63-Jährige. Nicht umsonst seien Pornos erst ab 18 Jahren freigegeben.
Schon immer waren Jugendliche neugierig auf Sex. Aber heute werden sie mit dem Thema ganz anders konfrontiert als zu Zeiten von Video oder DVD. Diese Bilder sind über das Internet und die Sozialen Medien ständig verfügbar. „Darüber erfahren sie nicht etwas, das altersadäquat ist“, sagt Andreas Müller und kritisiert: „Damit werden sie oft alleine gelassen.“
Können Jugendliche einschätzen, dass ein Porno geschauspielert ist?
Viele Jugendliche denken, die Pornos seien echt, als ob sie eine Dokumentation anschauen würden. Nur gut ein Viertel der Befragten, die einen Porno gesehen haben, bewerten ihn als unrealistisch. „Das muss man sehr kritisch mit den Jugendlichen diskutieren, weil sie einfach alles eins zu eins glauben“, sagt Andreas Müller.
Der Sexualpädagoge erklärt den Jungen und Mädchen, dass die Aufnahme bearbeitet, der Penis optisch verlängert wurde. „Man sieht nicht, dass es Erektionsprobleme gibt, dass es der Frau vielleicht wehtut. Das wird ja alles bearbeitet.“ Damit der Eindruck entsteht, alles sei „easy“. Und die Jugendlichen würden sich dann fragen: „Ist das normal? Wollen Frauen das so?“
Welches Bild bekommen Jungen von Mädchen, wenn sie Pornos schauen?
„Die meisten Pornos, die man kostenlos bekommt, sind sehr frauenverachtend“, sagt Andreas Müller. Die Männer dominierten die Frauen in den Filmen. „Sie lassen sich alles gefallen, sagen niemals Nein, machen alles mit, selbst wenn es eklig ist“, so der Therapeut. Er rät Eltern, mit den Kindern darüber zu sprechen: „Man muss nicht hochmoralisch werden, aber das sollte man korrigieren.“

Oft ist das Mädchen jünger als der Junge, mit dem es zusammen ist. Dann macht das Mädchen vielleicht Dinge mit, bei denen es sich nicht wohlfühlt, weil der ältere Junge manipuliert, so Müller: „Die Jungs sagen dann: ,Das ist normal, guck dir doch mal Pornos an, das wollen doch alle Mädchen, bist du unnormal?‘“
Man sollte mit den Jugendlichen über die realen Bedürfnisse von Mädchen und Frauen sprechen. „Ich versuche natürlich auch darzustellen, wie unterschiedlich das sein kann.“ Und Müller erklärt, dass in den Pornos häufig Machtfantasien bedient werden. „Das hat nichts mit einer partnerschaftlichen, beidseitig entwickelten Sexualität zu tun.“
Wie verändern Pornos das Selbstbild von Jungen?
Männer werden in Nacktvideos als stark, mit großem Penis und hohem Standvermögen dargestellt. Das beeinflusst auch die jungen Zuschauer, die womöglich Selbstzweifel bekommen. Müller konfrontiert sie mit der echten Penis-Durchschnittsgröße eines ausgewachsenen Mannes im erigierten Zustand. „Es gibt ja seriöse Untersuchungen, die gehen von 12,9 Zentimeter aus, andere von 14,5 Zentimeter“, so Müller. „Das glauben die Jungen mir dann nicht, weil sie nur diese 20 Zentimeter-Penisse aus den Pornos kennen.“
Wenn ein sensibler Junge sich solche Videos nicht anschauen möchte, wird er womöglich von anderen angegangen: „Wieso denn nicht? Bist du schwul? Bist du prüde? Das finden doch alle geil!“, zählt Müller beispielhaft auf, wie Jungen beeinflusst werden. „Es kommt natürlich auf den Bildungsstand an, die sozialen Gruppierungen.“
Wie verändert sich die Sexualität eines Jugendlichen, wenn er regelmäßig Nacktvideos schaut?
„Man stumpft durch den massiven Konsum ab“, sagt Müller, der auch Sexualtherapie mit Erwachsenen macht. Er beobachtet immer häufiger Fälle von Pornosucht. „Mich wundert das nicht, weil das alles so einfach zu haben ist“, so Müller. „Den Suchtcharakter darf man nicht unterschätzen. Und je früher man anfängt, das weiß man auch vom Alkohol, desto gefährdeter ist man.“
Wie können Eltern mit Jugendlichen über Nacktvideos sprechen? Und warum ist das so wichtig?
Müller hat schon mal mit einem Vater gesprochen, der gesagt hat: „Ich habe meinem Sohn einen Porno gezeigt. Jetzt ist er aufgeklärt“, erzählt der Sexualpädagoge. „Das ist bestimmt nicht der richtige Weg. Mal abgesehen davon, dass der Vater sich strafbar macht, wenn er so etwas tut.“ Doch selbst, wenn Eltern einfühlsam sind: Vielen Jugendlichen sei es einfach zu peinlich, mit Mutter oder Vater über das Thema zu reden. „Da bin ich natürlich eine neutrale Instanz als Sexualpädagoge.“ Trotzdem, wenn Eltern den Verdacht haben, ermutigt er sie, das Gespräch zu suchen.
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„Die Hemmschwellen gehen nach unten“, sagt Müller. Heute würden Dickpics, also Penisbilder, einfach in den Gruppenchat von der Schulklasse gestellt. Und dann werde das von den Schülern verharmlost. Aber es sei nun mal sexuelle Belästigung. „So etwas sollte man schnell offen machen, früh Grenzen setzen.“
Vorbeugen könne man auch, wenn man bei der Tochter oder dem Sohn von Anfang an das Selbstvertrauen aufbaut. Zum Beispiel mit Büchern wie „Mein Körper gehört mir“. Damit Kinder lernen, dass sie Rechte haben und dass es Grenzen gibt.
Sollten Eltern verstärkt das Smartphone des Kindes kontrollieren?
Das Smartphone des eigenen Kindes zu kontrollieren, ist heikel. Verliert man so womöglich das Vertrauen des Sohnes oder der Tochter? Es gibt Experten, die davor warnen. Kinder könnten sich so womöglich komplett verschließen und andere Wege finden, heimlich Pornos zu schauen. Doch Müller kritisiert dieses Tabu. Er betont, dass es weniger um Kontrolle gehe, vielmehr um Schutz.
Man sollte natürlich keine tagebuchähnlichen Aufzeichnungen lesen; aber nach Absprache mit den Jugendlichen schauen, was für Fotos oder Videos sie auf dem Handy haben. „Wenn man im Besitz von kinder- und jugendpornografischen Material ist, ist das ein Straftatbestand“, erklärt Müller. „Das kann sogar die eigene Freundin sein, die man gefilmt hat.“ Kommt die Polizei dahinter, droht ein Gerichtsverfahren. „Und das dauert. Man weiß nicht: Wie geht das aus? Ich will eine Ausbildung machen, steht das nachher in meinem Führungszeugnis?“
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Der Experte empfiehlt, Schutzprogramme aufzuspielen, damit die Kinder möglichst gar nicht erst Material zugeschickt bekommen und sie nicht auf Pornoseiten klicken können. Zugleich weiß er: „Viele Jugendliche sind geschickter als die Eltern und können diese Programme umgehen.“
Es gehe nicht darum, pubertierenden Jugendlichen die Neugier auf Sex zu verderben. Aber man sollte mit ihnen die Sozialen Medien und Pornos kritisch hinterfragen. Und sie dann auf Bücher, sichere Internetseiten oder Beratungsstellen aufmerksam machen, die ein echtes Bild von Sexualität vermitteln.
Sex, wie er wirklich ist: Bücher, Broschüren, Beratungsstellen
- Pro Familia hat mehrere Beratungsstellen, an die sich Eltern und auch Jugendliche wenden können. Der Kontakt zu der Beratungsstelle in Oberhausen, die der Sexualpädagoge Andreas Müller leitet: 0208-867771 oder per E-Mail oberhausen@profamilia.de.
- „Voll pornös“ heißt ein Heft von Pro Familia, das sich an Jugendliche richtet und über Pornos aufklärt. Bei profamilia.de gibt es zudem weitere Broschüren zum Thema Sex und Lust für Jungen und Mädchen zum Herunterladen.
- Es gibt mehrere Aufklärungsbücher, die die Fragen der Jugendlichen auf lockere Art beantworten. Zum Beispiel „Sex in echt“ von Nadine Beck und Rosa Schilling (Oetinger, 128 S., 17 €, ab 12) oder „Klär mich auf - 101 echte Kinderfragen rund um ein aufregendes Thema“ von Katharina von der Gathen (Klett, 216 S, 17 €, ab 8).
- Schon Grundschulkinder kann man aufklären, mit Büchern ab 5 Jahren zum Beispiel von Dagmar Geisler: „Mein erstes Aufklärungsbuch“ (Loewe, 128 S., 14,95 €) oder des Duisburger Sexualtherapeuten Carsten Müller: „Von wegen Bienchen und Blümchen! Aufklärung, Gefühle und Körperwissen für Kinder“ (EMF Verlag, 48 S., 16 €).
- Sex im Netz - Aufklärungsseiten sind etwa liebesleben.de oder www.loveline.de
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