Essen. Immer mehr Kinder stehen ohne Kita-Platz da, zeigt der neue Bildungsbericht Ruhr. Mit welchen Mitteln gegengesteuert wird – und wo es hapert.
Verzweifelte Eltern, die morgens an der Kita vor verschlossenen Türen stehen, Erzieherinnen und Erzieher, die immer häufiger unter dem Druck erkranken und Kinder, denen eine gute Betreuung fehlt: Die Situation in den Kitas verschärft sich weiter. Vor allem im Ruhrgebiet hat sich die Betreuungsquote überproportional verschlechtert, zeigt der neue Bildungsbericht Ruhr. Diesen hat der Regionalverband Ruhr gemeinsam mit der Bildungsinitiative Ruhrfutur am Mittwoch (18.12.) herausgegeben.
Besonders deutlich zeigt sich der Kita-Notstand bei den drei- bis unter sechsjährigen Kindern. Bei ihnen ist die Betreuungsquote im vergangenen Jahrzehnt von 92,7 Prozent auf 86,5 Prozent gefallen. Besorgniserregend laut RVR: Der Anteil der unbetreuten Fünfjährigen hat sich 2023 im Vergleich zu 2019 auf fast acht Prozent nahezu verdoppelt. Damit werden immer mehr Kinder eingeschult, die zuvor noch nie eine Kita besucht haben.
„Obwohl die Zahl der Kitabeschäftigten im Ruhrgebiet deutlich erhöht wurde, bleibt der Fachkräftemangel ein zentrales Problem“, sagt Studienautorin Sabine Wadenpohl. Die bisherigen Strategien zur Personalgewinnung seien zwar erfolgreich gewesen, reichten jedoch nicht aus, um die wachsenden Herausforderungen bewältigen zu können.
Wie lässt sich die Kita-Krise endlich in den Griff bekommen? Und welche Lösungsansätze gibt es bereits? Ein Überblick.
Mehr Quereinsteiger in die Kitas bringen
Kita-Kinder sollen künftig noch mehr von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern betreut werden. Das Modell „Quereinstieg in die Kinderbetreuung“ (QiK) sieht laut dem NRW-Familienministerium vor, dass die Quereinsteiger nach einer kurzen Anfangsqualifikation (120 Stunden) zügig in den Kindertageseinrichtungen zum Einsatz kommen und dann für zwei Jahre berufsbegleitend Fortbildungen (weitere 360 Stunden) absolvieren. Danach könne eine Kinderpflege-Ausbildung aufgenommen werden, die jedoch um ein Jahr verkürzt werden könne (ein statt zwei Jahre). Staatlich geprüfte Kinderpfleger könnten auch eine Erzieher-Ausbildung absolvieren. Bislang wurden dafür allerdings nur vier „Modellkommunen“ ausgewählt: Aachen, Mönchengladbach, der Kreis Steinfurt und der Rheinisch-Bergische Kreis.
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Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger könnten allerdings nicht direkt „das Ruder rumreißen“, sagt Kathrin Bock-Famulla, Bildungsexpertin bei der Bertelsmann Stiftung. „Schließlich müssen sie richtig eingearbeitet werden, dafür fehlt allerdings häufig die Zeit. Aus unseren Studien wissen wir, dass das für die Teams eine zusätzliche Belastung sein kann. Wenn ungelernte Mitarbeitende zu früh zu viel Verantwortung übernehmen müssen, gehen sie schneller wieder aus dem System.“ Zudem müssten noch genügend ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher in den Gruppen sein, damit die pädagogischen Anforderungen weiterhin erfüllt blieben, sagt Bock-Famulla.
Lockerung der Personalvorschriften
Das Land hat eine Lockerung der Personalvorschriften für Kita-Gruppen mit über Dreijährigen angekündigt, um auf die zuletzt gestiegenen Meldungen von Notbetreuung und Gruppenschließungen zu reagieren. Kitas sollen künftig bei Krankheitsausfällen auch dann geöffnet bleiben dürfen, wenn nur noch eine pädagogische Fachkraft für 60 Kinder da ist. Bislang sind zwei Erzieherinnen pro 20-köpfiger Ü3-Gruppe vorgeschrieben. Mit der neuen Regel würde es reichen, wenn Ergänzungskräfte wie Kinderpfleger, Sozialassistenten oder Heilerziehungshelfer einspringen. Unter diesen Not-Bedingungen sollen Kitas einmal im Jahr für höchstens sechs Wochen arbeiten dürfen.
Mit diesem Vorstoß sei ein sicheres Umfeld für die Kinder nicht mehr gewährleitet, kritisiert Kathrin Bock-Famulla. Zudem könne eine Fachkraft keine pädagogische Verantwortung für 60 Kinder übernehmen und gleichzeitig die übrigen Hilfskräfte anleiten.
Alltagshelfer im Einsatz
Die Kita-Helferinnen und -Helfer unterstützen die pädagogischen Fachkräfte bei alltäglichen Arbeiten wie der Umsetzung von Hygieneregeln, beim Küchendienst oder bei Ausflügen und Veranstaltungen. Rund 9800 Kitas Kita-Helferinnen und -Helfersind laut Familienministerium im Einsatz.
„Die Alltagshelferinnen und -helfer sind eine Entlastung für die Fachkräfte. Gerade im Hauswirtschafts- und Verwaltungsbereich braucht es noch mehr von ihnen“, sagt Bildungsexpertin Bock-Famulla. Gerade die Verwaltungsaufgaben hätten in den vergangenen Jahren zugenommen. „Da die Teams mit den Hilfskräften immer heterogener werden, muss mehr in Teamweiterbildung und professionelle Begleitung investiert werden.“
Erzieher aus dem Ausland
NRW wirbt gezielt Fachkräfte aus dem Ausland an. 2023 konnten etwa durch ein Programm der Bundesagentur für Arbeit 200 arbeitslose Erzieherinnen und Erzieher aus Spanien nach Deutschland kommen, um die vielen offenen Stellen zu besetzen. Im vergangenen Winter sind auch Kitas aus NRW in das Pilotprojekt eingestiegen.
Teils seien die Verfahren für ausländische Pädagoginnen und Pädagogen jedoch noch zu intransparent, bürokratisch und langwierig, sagt Kathrin Bock-Famulla. Wichtig sei darüber hinaus, dass die sprachlichen Anforderungen in den Kitas nicht abgesenkt und die Menschen entsprechend qualifiziert werden.
Expertin fordert: Betreuungszeiten begrenzen
Um die Situation in den Kitas zu entschärfen, könnte man die Betreuungszeiten täglich bis Ende 2025 auf sieben Stunden begrenzen, schlägt Bock-Famulla vor. „Wir haben berechnet, dass man so allen Eltern einen Platz anbieten könnte. Dann müssten aber alle Kinder gleichzeitig in die Einrichtungen kommen.“ Somit müssten Arbeitgeber darüber nachdenken, die Arbeitszeiten der Eltern entsprechend anzupassen. Bock-Famulla: „Das könnte ein Kompromiss sein, der sich am Wohlbefinden der Kinder orientiert.“
Info: Kita-Finanzierung
Zur Finanzierung der Kitas in NRW heißt es von Ministerpräsident Hendrik Wüst: „421 Millionen Euro hat NRW allein für das Kita-Helferprogramm in den letzten zwei Kita-Jahren bereitgestellt. Wir unterstützen die Kitas in schwierigen Ausnahmesituationen: 60 Millionen Euro in der Energiekrise 2023 zur Abfederung der gestiegenen Energiekosten. 100 Millionen Euro Anfang 2024 für die freien Kita-Träger zur Abfederung der Tarifabschlüsse. 2010 wurde vom Land NRW 1,25 Milliarden Euro für Kitas und Kindertagespflege aufgewendet. In diesem Jahr sind es knapp über fünf Milliarden Euro, und im nächsten Jahr geben wir für die frühkindliche Bildung noch einmal eine halbe Milliarde Euro obendrauf, also 5,6 Milliarden Euro.“
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