Bochum. Immer mehr Menschen erreichen die 100 Jahre. Wie fühlt sich dieses Alter an, wie blickt man auf die Welt? Eine Bochumerin erzählt.
Herzlichen Glückwunsch, Frau Wohlleben! Man wird nicht alle Tage 100 Jahre alt – das schafft nur ein Mensch aus 4000 in NRW. Aber es werden immer mehr. Anneliese Wohlleben aus Bochum-Langendreer kann ihre Geburtstagsfeier noch genießen. Sie wirkt eher wie eine rüstige 80-Jährige. Doch ihr besonderes Alter bringt auch für sie ganz eigene Probleme und Perspektiven mit sich. Frau Wohlleben erzählt gerne, was sie über diese Welt denkt, die vielleicht genauso verrückt ist, wie die Welt, in die sie hineingeboren wurde.
Am 27. November 1924 sah die Zukunft Deutschlands goldig aus. Der Swing eroberte die Tanzböden und viele Menschen kauften ihr erstes Radio, Adolf Hitler saß nach seinem gescheiterten Putsch im Gefängnis, die Weimarer Republik stabilisierte sich. Und heute? Von ihrem Sessel aus zeigt Anneliese Wohlleben auf die Zeitung, die am Tag des Vorgesprächs auf ihrem Rollator liegt. Sie liest die WAZ noch ohne Brille! „Hier: Verärgerter Kanzler entlässt Lindner. Was da wieder steht. Und dieser Trump! Der gefällt mir nicht. Da kann so viel passieren. Ich hoffe nur, dass es keinen Krieg gibt. Da müssten Sie am Ende auch noch Soldat werden.“
Sie hat Deutschland brennen sehen
Frau Wohlleben sieht Parallelen, sie sorgt sich. Und vielleicht hält dieses Interesse sie auch fit, motiviert sie auch in ihrem hundertsten Lebensjahr noch, die Geschicke von Ministern zu verfolgen, die ihre Enkel sein könnten. Sie interessieren die Wegpunkte der großen Linien: Krieg und Frieden, Sicherheit und Wohlstand. Sie hat Deutschland brennen sehen und wie eine neue Welt aus den Trümmern entstand. Sie hat erlebt, wie sich Imperien gegenüberstanden und wie der Ostblock zerfiel. Das Ende der Geschichte?
Von wegen! Menschen wie Anneliese Wohlleben überblicken die Dynamik von Staaten auf ganz andere Weise. Persönlicher. Schlaglichter aus hundert Jahren:
„Uns gegenüber wohnten Juden, die hatten ein Modegeschäft. Auf einmal gab es in der Nacht Tumult, da flogen die ganzen Sachen auf die Straße. Meine Eltern sagten: Komm vom Fenster weg, komm vom Fenster weg. Das war die Verfolgung, das war schlimm.“
„Als die Bomben fielen, waren wir im Keller unseres Hotels. Da hörten wir nur: krack-krach! Raus! Raus! Aber ganz Bonn stand in Flammen, wo sollten wir hin? Ich habe Bubi auf den Arm genommen.“ Sie wollte nie eine Puppe haben. Aber der Vater überraschte seine Anneliese dennoch mit einem Puppenwagen – heraus sprang ein kleiner Hund. Mit ihrem Bubi fest im Arm lief die Zwanzigjährige vorbei an Flammen und Explosionen zum Rhein. Am Wasser entlang bis zu einem Bunker. „Am nächsten Tag sahen wir, dass unser Hotel abgebrannt war, also fuhren wir zur Familie nach Langendreer.“
Kohl, der war schon jünger als sie
Anneliese Wohlleben weiß noch, wie sie in Bonn an der Straße stand und Adenauer zugewunken hat. Dann kam Erhard. Dann Kiesinger. Brandt, Schmidt, Kohl, der war schon jünger als sie. Schröder, Merkel, Scholz …
Geboren wurde Anneliese Wohlleben in Dortmund, ihre Eltern übernahmen dann eine Gaststätte in Langendreer, gegenüber der Müser-Brauerei. Später dann ein Hotel in Bonn, wo sie zur Schule ging. Nach dem Krieg lebte sie wieder in Langendreer, die Eltern hatten dort eine andere Gaststätte eröffnet. Dort wurde ein Freund aus ihrer Kindheit zum Stammgast und dann zu ihrem Mann. Mehr als 50 Jahre lang war sie verheiratet, betrieben ein Uhrengeschäft. „Wir hatten leider keine Kinder.“
Die Wohllebens sind viel gereist. Kanada mit dem Wohnmobil und solche Sachen. Heute steht ein Bild ihres Mannes vor drei pinken Plastikblumen auf dem Tisch ihres Zimmers im Awo-Seniorenzentrum Bochum-Werne. Neben den dänischen Tellern an der Wand und dem Album mit den Hochzeitsbildern im Schrank, ist das Foto ihres Mannes Walter der einzige Erinnerungsgegenstand: ein freundlicher Herr mit selbstbewusstem Blick. Vor acht Jahren ist er gestorben. „Er war das Beste in meinem Leben.“
Das Foto ist entstanden zwischen der Erfindung der Digitalkamera und der von Instagram. Einen Computer hatte sie nie, ihr Telefon hat sie nur zum Telefonieren genutzt. Von den modernen Lastern ist sie dennoch nicht verschont geblieben: „Ich muss mal wieder was lesen. Aber Fernsehen nimmt ja so viel Zeit in Anspruch.“
Phase reiht sich an Phase
Alle Selbstständigen an der Alten Bahnhofsstraße waren in einem Kegelclub, der Teppichhändler, die Bäckerin, der Friseur und die Wohllebens. Anneliese Wohlleben war auch im Tanzclub, „jedes Jahr gab es ein neues Abendkleid, das war ein schöner Kreis, ein schöner Kreis. Dann haben wir so viele Beerdigungen erlebt.“
Aber selbst die Zeit der Abschiede liegt zehn bis zwanzig Jahre zurück. Gefühlt dauert der neue Lebensabschnitt des hohen Alters eine Ewigkeit. Und doch begann mit dem Sturz und ihrem Umzug ins Heim vor eineinhalb Jahren eine weitere Phase. Auf jeden Lebensabschnitt müssen Menschen wie Frau Wohlleben sich einlassen, sonst ist es der Anfang vom Ende.
Sie ist noch nicht ganz eingerichtet, einiges lagert noch in der Wohnung, die der Sohn ihrer guten Freundin für Frau Wohlleben auflöst. Auch Reiner Kloss ist mittlerweile 67 Jahre alt. „Ich darf nur nicht zu viel an Zuhause denken“, sagt sie und blickt über ihren Balkon ins Grüne: „Aber Zuhause war man schon manchmal allein.“
Das ist im Heim anders, hier hat sie sofort neue Bekanntschaften geschlossen. Sie sei auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme, sagt Petra Lindemann vom Sozialen Dienst. Im Seniorenbeirat macht Frau Wohlleben mit, wird gefragt, was den Heimbewohnern schmecken könnte oder welche Blumen gepflanzt werden sollen. Erika hat sich Anneliese Wohlleben gewünscht. Auch die Gottesdienste besucht sie gerne, weil sie die Pastorin so nett findet. „Bingo? Gut, das ist mal ein Zeitvertreib. “ Dann schon lieber Singen mit Willie. „Was macht eigentlich der Hund von Willie?“, fragt sie Frau Lindemann. Die kommentiert: „Interesse hält jung. Frau Wohlleben ist an allem interessiert.“
Und vielleicht weil sie so interessiert ist an den Menschen um sie herum, ist ihr großer Tag eine heitere Angelegenheit. Neben der Bürgermeisterin und den zwei Geistlichen ist auch eine Delegation der Frauenhilfe zum morgendlichen Sektempfang gekommen, auch die Jüngeren erinnern sich dort gern an die engagierte Frau Wohlleben. Die Jüngsten ihres Tanzclubs besuchen sie.
Nach dem Mittagsschlaf bringt ihre Cousine Anne Busse (82) Amaryllis zum Kaffeetisch. Als einzige Freundin ihrer Generation kann Margarete Gerlach kommen, die Bäckerin, nun 90 Jahre alt. Deren Sohn Rüdiger und seine Frau Sabine stoßen an mit alkoholfreiem Sekt („Ist ja gar nichts für Anneliese.“) Reiner Kloss mit seiner Frau Elisabeth hat die Feier vorbereitet. Martin und Andrea Schreckenschläger sind dabei, der Sohn einer anderen Cousine. Und Frau Wohlleben? Ist die Ruhe selbst. „Man muss immer in Bewegung bleiben“, sagt sie selbst zu ihrem Alter. „Aber man soll es auch nicht übertreiben.“ Alle sind sich einig, dass dies eine gute Zusammenfassung ist.
Wie man gesünder altert
„Wir sehen einen allgemeinen Anstieg der Lebenserwartung. Das führt automatisch zu mehr Menschen, die hundert Jahre erreichen“, sagt Joris Deelen. Der niederländische Forscher leitet die Forschungsgruppe „Genetik und Biomarker des menschlichen Alterns“ beim Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns in Köln. „Wenn der Trend so weitergeht, dann werden 80 Jahre bald normal sein — und 100 Jahre nicht mehr außergewöhnlich. Es ist die bessere Lebensqualität: die Gesundheitsversorgung und Pflege, mehr Hygiene und die Ernährung.“
Allerdings könnte die Lebenserwartung auch wieder sinken, erklärt Deelen. In den USA ist das bereits der Fall, weil viele Menschen sich ungesünder ernähren oder anderweitig durchs gesellschaftliche Raster fallen. „Und wir vollziehen meist die US-Trends nach.“
Ein sehr langes Leben bedeutet ohnehin für die meisten Menschen, dass sie länger mit Gebrechen und Krankheit leben. „95-jährige Alzheimer-Patienten können auch hundert Jahre alt werden. Wir sind gut darin geworden, Menschen langer am Leben zu erhalten, aber oft ohne sie länger gesund zu halten.“ Darum sucht Deelen nach Genen, die einige wenige Menschen und Familien gesünder altern lassen. Solche seltenen Ausnahmen gibt es — und vielleicht ist Frau Wohlleben sogar eine von ihnen.
Aber selbst, wenn es den Forschern gelingen sollte, die komplizierten Wechselwirkungen verschiedener Genkombinationen zu entschlüsseln, ist dies noch lange keine Anleitung zum längeren gesünderen Leben. Entscheidend ist, was man heute schon beeinflussen kann:
Gute Ernährung und Bewegung, Verzicht auf Rauchen und Sonnenbrand liegen auf der Hand. „Aber auch Einsamkeit ist ein großer Risikofaktor für das Sterben im hohen Alter“, sagt Deelen. „Wer auch im hohen Alter noch sein soziales Umfeld pflegt, erhöht damit seine Chance, länger gesund zu leben.“
Und der Rhythmus der Ernährung könnte eine Rolle spielen. Setzt man Mäuse einem leichten Hunger aus, aktiviert das Selbstreinigungskräfte in den Zellen. Übertragen auf den Menschen hält Deelen Intervallfasten für eine praktikable Möglichkeit. Wenn man das Frühstück weglässt und nur zwischen 12 und 20 Uhr isst, könnte das vorteilhaft sein. Viele klinische Studien dazu gibt es aber noch nicht, und naturgemäß müssen diese über einen langen Zeitraum laufen, um den langfristigen gesundheitlichen Vorteilen abschätzen zu können.“