Bochum. Eva Seifert muss einen Kaiserschnitt durchmachen – ungeplant. Eine Anwältin erklärt, warum das nun zu Schadensersatz führen könnte.
Wenn Eva Seifert von der Geburt ihrer Zwillinge spricht, ist ihre Miene hart, die Sätze sind kurz, ihre Augen glasig. Der Tag, den sie drei Jahre später als schlimmsten ihres Lebens bezeichnet, hat sich als posttraumatische Belastungsstörung in ihrem Alltag manifestiert. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt sie heute: „Ich habe Gewalt unter der Geburt erfahren.“
Damit ist Seifert nicht allein, wie Expertinnen und Experten versichern – zuverlässige Zahlen dazu gibt es allerdings nicht. Doch an Tagen wie dem Roses Revolution Day Ende November erzählen viele Frauen davon, wie sie im Kreißsaal beschimpft, beleidigt oder vernachlässigt wurden, auch von Eingriffen ohne Einverständnis ist die Rede. Seifert geht einen Schritt weiter: Sie sucht eine Fachanwältin für Medizinrecht auf. Einen Behandlungsfehler mit „gesundheitlichen Nachteilen für die Patientin“ bestätigt jüngst ein Gutachten der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL).
Behandlungsfehler bei der Geburt: Einleitung, Wehenhemmer, Kaiserschnitt
Es ist September 2021, Eva Seifert ist aufgrund der Pandemie allein in der Klinik. Um die Geburt einzuleiten, erhält sie ein Vaginalgel. Der gutachterliche Bescheid der ÄKWL bezeichnet die Dosierung im Nachhinein als fehlerhaft. Unserer Redaktion liegen die Gutachten vor. Demnach sei das Gel ein zweites Mal aufgetragen worden, obwohl die Bochumerin bereits Wehen hatte. Was folgte, waren „hyperfrequente Wehen“, für Seifert mit starken Schmerzen verbunden. Es habe sich angefühlt, als würde ihr Bauch platzen.
Die Herztöne einer ihrer Söhne verschlechterten sich. Seifert bekam Wehenhemmer, die nicht halfen. Die beiden Kinder mussten per Kaiserschnitt geholt werden. Für Seifert der Horror: Während der Schwangerschaft war ihr eine Blutgerinnungsstörung diagnostiziert worden. Die Vorstellung, bei der Operation zu viel Blut zu verlieren, löste Panikattacken bei ihr aus: „Ich hatte Todesangst.“ Drei Jahre später erzählt sie, man habe sie nicht aufgeklärt, sie für die OP gefesselt, ihr ohne Betäubung einen Blasenkatheter „reingerammt. Ich habe mich vergewaltigt gefühlt.“
Psychische Gewalt spielt juristisch häufig keine Rolle
Vieles, was die Mutter in dieser Nacht erlebt, ist laut Anwältin Sabrina Diehl juristisch nicht relevant. Etwa die aus Seiferts Sicht mangelnde Empathie des anwesenden Personals. Es soll Seiferts Panik und die Schreie ignoriert haben. Mehr noch: „Hören Sie auf zu schreien“ und „Stellen Sie sich nicht so an“ habe es geheißen. Die Bochumerin berichtet von spöttischen Bemerkungen über ihre Intimfrisur.
Diehl weiß: Mit Schilderungen psychischer Gewalt kommt man im Verfahren nicht weit. Die Fachanwältin für Medizinrecht vertritt seit 16 Jahren Patientinnen und Patienten. Bis heute hat sie rund 50 Frauen betreut, die sich wegen Problemen bei der Geburt an sie gewandt haben. Beraten habe sie weit häufiger, viele Patientinnen musste sie nach einem ausführlichen Gespräch abweisen.
Medizinrecht sei komplex, sagt Diehl. Grundsätzlich zähle erst einmal jeder medizinische Eingriff als Körperverletzung. „Begibt sich eine Person aber bewusst in die Behandlung bei einem Arzt oder in einer Klinik, ist die Körperverletzung nicht mehr strafbar“, erklärt die Anwältin.
Dennoch: Weicht eine Behandlung stark vom ärztlich anerkannten Standard ab, kann sie durchaus als Gewalt im juristischen Sinne gelten. Um die Chancen zu erhöhen, rät Diehl den meisten Müttern von einem Strafverfahren ab: „Bei zivilrechtlichen Verfahren haben wir günstigere Beweismaßstäbe.“
Gewalt im Kreißsaal: „Keine Klinik in Deutschland kann sich davon freisprechen“
Noch 2021 sucht Seifert Diehl auf, die Anwältin leitet ein Schlichtungsverfahren ein. Die betroffene Klinik im Ruhrgebiet stimmt zu, übernimmt die Kosten des Gutachtens. Darin hält die ÄKWL Ende Oktober 2024 fest: Die zweite Dosis Vaginalgel habe zu einer Überstimulation geführt, die den Kaiserschnitt nötig gemacht habe. Seiferts posttraumatische Belastungsstörung und körperliche Beschwerden seien infolge dessen aufgetreten. Schadensersatzansprüche halte die ÄKWL daher für gerechtfertigt.
Benedikt Gottschlich weiß um das Problem, auch abseits von Behandlungsfehlern komme es in Kreißsälen zu verbaler und physischer Gewalt. Der Facharzt leitet die Geburtshilfe der Bochumer Augusta-Kliniken. Hier tue man einiges, um Schwangeren eine sichere Geburt mit möglichst wenigen Interventionen zu ermöglichen. Eva Seifert hat nicht in den Augusta-Kliniken entbunden.
Die Erlöse für die Geburtshilfe seien zu gering, so Gottschlich. Häufig müssten Kliniken mit nur einer Hebamme pro Schicht auskommen, darunter leide die Betreuung der Frauen. „Da gibt es deutlichen Nachbesserungsbedarf“, sagt der Facharzt. Eine Geburt, die von Frauen als traumatisierend empfunden wird, könne man vermeiden, indem man sie aufklärt, sensibel auf sie reagiert und sie mitentscheiden lässt. So empfänden Frauen ungeplante Eingriffe und Interventionen als weniger gewaltvoll.
Flashbacks und Albträume nach Geburt
Nach außen hin könnte man meinen, auch Seiferts Geburt ging gut: In ihrer Wohnung liegt Spielzeug, die beiden gesunden Zwillinge sind zum Zeitpunkt des Gesprächs in der Kita. Doch für die Sozialarbeiterin bestimmt ihre Erfahrung auf einer Geburtsstation im Ruhrgebiet auch drei Jahre später ihren Alltag.
In Flashbacks erinnert sie sich an die Hilflosigkeit und die Todesängste, auch in ihre Träume begleiten sie die Bilder. „Lange habe ich Panikattacken bekommen, wenn mich jemand angefasst hat.“ Nur wenige Monate nach der Geburt ihrer Zwillinge brachten sie die Erinnerungen daran zum Äußersten. „Einfach um die Gedanken loszuwerden, wollte ich mich umbringen“, erzählt die Sozialarbeiterin. Es ist der Moment, in dem sie realisiert, dass sie Hilfe braucht. Noch am selben Tag geht sie in die Notaufnahme der LWL-Klinik. Ihr wird eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, gängig bei Menschen, die Krieg oder Missbrauch erlebt haben. Ein achtwöchiger stationärer Aufenthalt und drei Jahre Therapie folgen.
Zivilverfahren: Außergerichtliche Einwilligung möglich
„Ich bin noch immer in Therapie“, sagt die 36-Jährige. Sie habe gelernt, mit der posttraumatischen Belastungsstörung umzugehen. Sie komme weder dem Leben mit ihren Kindern noch ihrer Arbeit in die Quere. Dennoch: „Die Flashbacks und Albträume werde ich wohl nie ganz los.“ Auch körperlich hat die Geburt ihre Spuren hinterlassen. Seifert spürt heute den Bereich zwischen Bauchnabel und Hüften nicht mehr, ihre Menstruation sei stärker und schmerzhafter als vor dem Kaiserschnitt. All diesen Risiken und Nebenwirkungen hat sie schriftlich zugestimmt – allerdings laut eigener Aussage unter Druck: „Man ist in dem Moment erpressbar. Erpressbar mit dem Leben seiner Kinder.“
Mit Fachanwältin Sabrina Diehl an ihrer Seite sei Eva Seifert etwas gelungen, was die Therapie nicht hergegeben habe: „Ich bin aus dem Opferstatus rausgekommen und habe mich gewehrt.“ Die Haftpflichtversicherung der betroffenen Klinik habe sich kürzlich bei der Anwältin gemeldet – um eine außergerichtliche Einigung zu erzielen.