Essen. Schreie und Poltern: Was soll man tun, wenn man häusliche Gewalt in der Wohnung nebenan vermutet? Das raten ein Polizist und eine Anwältin.
Da sind sie wieder, die Schreie aus der Wohnung nebenan. Das laute Poltern und das leise Gefühl: Das ist kein normaler Streit. Etwa 181.000 Frauen wurden im vergangenen Jahr laut Bundeskriminalamt Opfer von innerfamiliärer oder auch Partnerschaftsgewalt. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Es ist nicht unrealistisch, dass auch die eigene Nachbarin betroffen ist. Aber was sollte man tun, wenn man häusliche Gewalt in der Wohnung nebenan vermutet? Die Polizei rufen, die vielleicht zu spät oder ganz umsonst kommt? Also lieber selbst an der Tür klingeln? Ein Polizist und eine Opferschutzanwältin erklären, was wirklich hilft.
Wie erkenne ich, ob meine Nachbarn „nur“ streiten oder tatsächlich jemandem Gewalt angetan wird?
Eine pauschale Antwort darauf gibt es nicht, sagt Hendrik Heyer von der Polizei Essen. „Man muss auf sein Bauchgefühl hören“, sagt er. Anzeichen sind etwa ein lauter Knall oder lautes Poltern, aber auch Schreie.
Sollte ich direkt die Polizei rufen oder erstmal selbst bei den Nachbarn klingeln?
„Immer lieber einmal mehr die Polizei rufen als einmal zu wenig“, sagt Heyer. Mit einem Anruf könne man im Ernstfall schließlich Leben retten. „Im Zweifel ist man als Nachbar einer der wenigen, der davon überhaupt mitbekommt und hat daher auch eine höhere Verantwortung“, betont der Kriminalbeamte.
Sollte sich herausstellen, dass es sich nur um einen normalen Streit handelt, die Polizei also umsonst gekommen ist, hat das für den Anrufer außerdem keine Folgen. Heyer rät hingegen davon ab, selbst zu klingeln. „Auch, wenn man eigentlich ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn hat: Man weiß nicht, was genau vor sich geht, wie hoch das Aggressionsniveau ist. Im schlimmsten Fall bringt man sich in Gefahr“, warnt er.
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Was tut die Polizei, wenn sie an der Nachbarwohnung ankommt?
Sie redet mit allen Beteiligten, auch getrennt voneinander. „Wir nehmen die Frau zur Seite, um in Ruhe mit ihr sprechen und ein Drohszenario ausschließen zu können“, so Heyer. Außerdem schauen sich die Beamten in der Wohnung um. Sind zum Beispiel Möbel zerstört worden, verrät das etwas über die Eskalation des Streits.
Haben die Beamten den Verdacht, dass es zu körperlicher Gewalt gekommen ist, schreiten sie in jedem Fall ein. Aber auch verbale Drohungen wie „Ich bringe dich um“ sind für sie eindeutige Anzeichen, um gegen den Täter vorzugehen. Konkret heißt das: Der gewalttätige Partner darf für zehn Tage die Wohnung nicht mehr betreten. Verstößt er dagegen, muss er eine Strafe zahlen. Das ist im sogenannten Gewaltschutzgesetz geregelt. Ist die Situation besonders bedrohlich, nehmen die Beamten den Täter auch direkt vor Ort fest.
Erfahren meine Nachbarn, dass ich es war, der die Polizei alarmiert hat?
Nein. Die Polizei regelt den Einsatz allein und sagt lediglich, dass sie von besorgten Nachbarn gerufen wurde. Sollte es allerdings in Zukunft zu einem Gerichtsprozess kommen, werden Nachbarn oft zu wichtigen Zeugen. „Dafür ist es hilfreich, wenn man sich bei jedem Vorfall Notizen macht. Welche Geräusche hört man? Welche genauen Sätze fallen im Streit? Und wie lange dauert er? All das sollte man sich aufschreiben“, sagt Alice Scaglione. Sie ist Außenstellenleiterin der Opferschutzstelle „Weisser Ring“ in Essen und Duisburg und arbeitet als Opferschutz- und Familienanwältin.
„Nachbarn sind die Personen, die bei häuslicher Gewalt am nächsten dran sind. “
Was ist, wenn man seiner Nachbarin am Tag nach dem Vorfall im Treppenhaus begegnet. Sollte man sie darauf ansprechen und Hilfe anbieten?
Das hängt davon ab, wie gut man sich kennt, so Alice Scaglione. „Ist die Nachbarin einem nicht völlig fremd, kann es hilfreich sein, ihr zu erzählen, was man mitbekommen hat. Man kann auch konkret nachfragen, ob alles in Ordnung ist. Vertraut sich die Nachbarin einem an, ist es wichtig, ihr klarzumachen, dass sie keine Schuld trifft“, so Scaglione. Wenn man sich nicht kennt, hilft es schon, unbemerkt Informationsflyer in den Briefkasten zu werfen.
Bei den Nachbarn kommt es immer wieder zu Streit. Trotzdem verlässt die Frau ihren Partner nicht. Wie kann das sein?
Betroffenen fällt es oft schwer, aus einer gewalttätigen Beziehung auszubrechen. Eine finanzielle oder emotionale Abhängigkeit, die Angst davor, die Kinder zu verlieren, sprachliche Barrieren oder die Sorge, dass einem nicht geglaubt wird: „Es gibt tausend unterschiedliche Gründe“, sagt Alice Scaglione.
Umso wichtiger ist es, als Nachbarn immer wieder einzuschreiten, nicht weg-, sondern hinzuschauen. „Nachbarn sind die Personen, die bei häuslicher Gewalt am nächsten dran sind. Sie sind gefragt, wenn es darum geht, Hilfe zu leisten“, betont die Anwältin.
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Dass das allerdings noch viel zu selten passiert, erlebe sie bei vielen ihrer Fälle. „Es muss doch jemand meine Schreie gehört haben“: Diesen Satz hört sie häufig von Frauen, die sie vertritt. „Für sie ist es kaum nachvollziehbar“, so Scaglione, „dass niemand die Polizei gerufen hat.“
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