Essen. Ein Effekt von Terror ist der Affekt der Terrorisierten. Wie verantwortliche Politik nicht geht, zeigt leider gerade der CDU-Chef.
Tote, Verletzte, Traumatisierte: Man kann das Grauen kaum fassen. Doch einem Terroristen geht es nicht nur darum, für unmittelbares Leid zu sorgen. Er will die Gesellschaft, die er hasst, nachhaltig verändern. Angst und Wut sollen uns kopflos machen. Läuft es aus Sicht des Terroristen perfekt, dann zerstören wir im Affekt das, was es doch eigentlich zu verteidigen gilt: unsere Werte, unsere Freiheit, unsere Demokratie.
Schon jetzt hat der mutmaßliche Täter, der unschuldige Menschen wie Tiere abgeschlachtet hat, viel erreicht: Wir streiten hitzig über innere Sicherheit und Migration, vorhandene Gräben vertiefen sich; Nutznießerin ist vor allem die AfD, die in gewohnter Pietätlosigkeit Profit aus dem Leid in Solingen schlägt; vermutlich beeinflusst das sogar die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am kommenden Wochenende.
Purer Populismus, leider!
Der Vorschlag von CDU-Chef Friedrich Merz, einen Aufnahmestopp für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan zu verhängen, passt da leider ins Bild. Das ist purer Populismus, ein Vorschlag, der auf ein breites „Richtig so!“ in der Bevölkerung zielt, mit dem grundgesetzlich geschützten individuellen Asylrecht jedoch kaum vereinbar ist. Das ist unseriös und führt am Ende nur zu weiteren Enttäuschungen.
Was für eine Macht dieser Terrorist hat! Was für eine Macht wir ihm geben! Statt in Vielfalt eine Bereicherung zu sehen, wie es die Initiatoren des Stadtfestes in Solingen wollten, sehen wir darin im Moment nichts als eine Bedrohung. Und das ist ja auch verständlich.
Schläfer in den Flüchtlingsheimen
Die Situation ist ernst, und wer sie verharmlosen will, macht es nur schlimmer. Es ist wahr, dass mit den Geflüchteten aus Bürgerkriegsländern wie Syrien auch Menschen zu uns gekommen sind, die eine Gefahr für uns alle darstellen. Sie haben nichts als Gewalt und Elend kennengelernt. Die meisten von ihnen haben in Deutschland keine Perspektive. Bei düsterer Vergangenheit und düsteren Zukunftsaussichten sind manche von ihnen empfänglich für Radikalisierung. Ein Zugang zum Internet per Handy genügt.
Solingen ist da kein Anfangs- und leider wohl auch kein Endpunkt. Erst im Mai hatte in Mannheim ein Flüchtling aus Afghanistan fünf Männer mit einem Messer attackiert; ein Polizeibeamter starb. Nun muss man befürchten, dass sich weitere potenzielle Terroristen zu ähnlichen Taten animiert fühlen. In jedem deutschen Flüchtlingsheim könnte sich ein Schläfer aufhalten, der morgen irgendwo zuschlägt. Es muss nicht die Autobombe sein, die in einer Großstadt explodiert, nicht der Sattelschlepper, der in einen Weihnachtsmarkt gesteuert wird wie vor fast acht Jahren in Berlin. Böse Absichten und ein Messer genügen. Es muss auch nicht die Europameisterschaft sein. Ein Stadtfest reicht, ein Dorffest, oder auch nur Wartende an einem Bahnhof.
Mit einfachsten Mitteln angreifen
Das ist doppelt perfide. Erstens sollen wir das Gefühl haben, überall und jederzeit mit einfachsten Mitteln angreifbar zu sein. Und zweitens sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Absprachen zur Planung eines Anschlags von Behörden vorzeitig entdeckt werden – weil es gar keine Absprachen gibt. Der IS reklamiert den Anschlag später für sich, ohne dass es auch nur eines Kontaktes vorab mit dem Terroristen bedurfte. Wie will man so Anschläge verhindern?
Trotzdem müssen wir über ein Messerverbot reden. Ganz Deutschland sollte eine Messerverbotszone sein. Mehr Polizei, mehr Technik, mehr Ermittlungsbefugnisse für die Behörden: Auch diese Forderungen sind nicht neu, und wir brauchen hier mehr Geld und Tempo. Aber Mannheim oder Solingen, seien wir ehrlich, hätten wir so wohl nicht verhindert.
Asylrecht auf dem Prüfstand
Und damit sind wir wieder beim Asylrecht. Natürlich liegt hier ein Hebel. Nicht einmal zehn Prozent der verfügten Abschiebungen aus Deutschland an andere EU-Staaten gemäß des Dubliner Abkommens werden wirklich vollzogen. Im Falle des mutmaßlichen Terroristen von Solingen konnte er vor seiner Abschiebung aus Deutschland nach Bulgarien Medienberichten zufolge auch deshalb erfolgreich abtauchen, weil eine Ausschreibung zur Festnahme unterblieben war. Danach, wieder aufgetaucht, durfte er in Solingen bleiben. Hier liegt der Fehler im System, hier wäre mehr Konsequenz angebracht. Den Sachverhalt muss und wird die NRW-Landesregierung aufklären.
Letztlich müssen wir entscheiden – und da wird es richtig hart –, ob wir abgelehnte Asylbewerber direkt wieder in ihre Heimatländer abschieben, auch wenn ihnen dort Folter und Tod drohen. Zur Erinnerung: In Syrien regiert der brutale Diktator Baschar al-Assad, der den „Arabischen Frühling“ unter anderem mit Giftgas gegen die eigene Bevölkerung im Keim erstickt hat. Das Oberverwaltungsgericht Münster sieht zwar keine pauschale Bedrohung mehr durch den Bürgerkrieg in Syrien für Zivilisten. Was im Einzelfall passiert, weiß aber keiner. Und ein Straftäter, der in Deutschland einen Terroranschlag ausgeübt hat, gehört ohnehin nicht nach Syrien in den Folterkeller, sondern hinter deutsche Gitter. Auch hier empfiehlt sich ein Blick ins Grundgesetz.
Festival der Vielfalt
Finden wir die Kraft, nach der Überwindung von Trauer und Abscheu zu unseren Grundwerten zu stehen? In Solingen war es vor mehr als drei Jahrzehnten Mevlüde Genc, die nach einem rechtsextremistisch motivierten Brandanschlag, bei dem ihre halbe Familie ausgelöscht worden war, zur Versöhnung zwischen Christen und Muslimen aufgerufen hatte. Nicht alle Deutschen sind Rechtsextremisten, und nicht alle muslimischen Flüchtlinge sind Islamisten. Hoffen wir, dass (nicht nur) Solingen eines Tages wieder ein „Festival der Vielfalt“ feiern kann.