Essen. Bei der Bekämpfung des Lehrermangels gibt es kein Wünsch-dir-Was: für einzelne Regionen so wenig wie für die betroffenen Lehrkräfte.

Meine Tochter war am Boden zerstört. Ihre geliebte Grundschullehrerin, erfuhren wir von einem Tag auf den anderen, werde in Kürze an eine andere Schule abgeordnet. Dort gebe es einen enormen Lehrermangel, dafür müssten wir Verständnis haben, schrieb uns die Schulleiterin in einem Brief. Wir hatten dafür, ehrlich gesagt, in etwa so viel Verständnis wie meine Achtjährige, wenn ich ihr auf dem Spielplatz nach einer viertelstündigen Belegung der einen Schaukel sage, sie müsse nun Platz machen, da warteten noch andere.

„Das ist meine Schaukel!“
Das ist unsere Lehrerin!

Es ist bitter, wenn der Lehrer geht

In der Tat ist es ja auch bitter, wenn eine so wichtige Bezugsperson wegbricht. Für die Kinder fühlt sich das an, als würden sie verlassen. Für die Eltern ein bisschen auch. Schließlich hat man ja Mühe darauf verwendet, in persönlichen Gesprächen ein Vertrauensverhältnis zu diesem fürs eigene Kind wichtigen Menschen aufzubauen. Ich kann darum auch mit jenen Eltern aus dem Münsterland mitfühlen, die gegen die Abordnung „ihrer“ Grundschullehrerin jüngst sogar vor der Bezirksregierung Münster demonstrierten. Allein in diesem Regierungsbezirk sind jetzt 250 Lehrkräfte vornehmlich aus dem Münsterland betroffen, die in unterversorgte Bezirke ins nördliche Ruhrgebiet versetzt werden.

Zugleich muss man diesen Eltern sowie den „zwangsversetzten“ Lehrern aber auch ganz ehrlich sagen: Es gibt keine kurzfristig wirksame Alternative dazu, um in Problemvierteln und an Problemschulen die schlimmste Not zu lindern. Man macht sich in den eher gut betuchten, bürgerlichen Regionen NRWs vielleicht kein richtiges Bild darüber, was in Städten wie Gelsenkirchen oder Duisburg los ist. Wir sprechen hier schon länger von ganzen Stadtvierteln, die sich in einer heftigen sozialen Abwärtsspirale befinden, aus der sie ohne Hilfe von außen nicht herauskommen.

Benachteiligung wird zementiert

An den Schulen lässt sich das leider gut beobachten. Wo besonders viele Kinder mit Migrationshintergrund und/oder aus besonders bildungsfernen Schichten zur Schule gehen, des Deutschen meist nicht oder nur unzureichend mächtig, bleiben aufgrund der unattraktiven Bedingungen nicht nur die Lehrer aus. Die Schülerinnen und Schüler lernen insgesamt weniger erfolgreich. Soziale Benachteiligung wird dann immer weiter zementiert, weil Eltern aus bürgerlicheren Schichten ihre Kinder nicht auf solche Schulen schicken möchten. Im Zweifel ziehen sie lieber in einen anderen Stadtteil oder gleich in eine ganz andere Stadt, um ihrem Nachwuchs bessere Startchancen ins Leben zu ermöglichen.

Mit Stand Februar galt in Gelsenkirchen nur eine von 73 Schulen in städtischer Trägerschaft als gut besetzt. Allein an den Grundschulen fehlten mehr als 125 der knapp 810 benötigten Lehrkräfte. Nicht weniger ernüchternd sieht es in Duisburg aus. Hier fehlten insgesamt rund 260 Lehrerinnen und Lehrer. An den Duisburger Förderschulen muss das Angebot im August drastisch reduziert werden.

GEW spricht von Scheinlösung

Die Lehrer-Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) spricht von einer „Scheinlösung“, wenn man an einer Stelle einen Mangel minimiert und ihn dafür an anderer Stelle schafft. Ähnliches hört man vom Verband Bildung und Erziehung (VBE), der größten Fachgewerkschaft innerhalb des Deutschen Beamtenbundes. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass ein Lehrermangel nachhaltig nur dadurch beseitigt wird, indem mehr Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden. Dazu müssen zunächst einmal mehr Menschen eine entsprechende Ausbildung machen. Bis das geschehen ist, vergehen Jahre. Bis dahin jene Regionen im Ruhrgebiet, die es besonders schwer trifft, allein zu lassen, wäre aber falsch, weil nicht nur unsolidarisch, sondern auch volkswirtschaftlich kontraproduktiv.

Wer kommt denn am Ende für die Kosten auf, die durch Bildungsmangel, Arbeitslosigkeit und Armut entstehen? Nicht zuletzt auch jener Steuerzahler, der abends durch die wunderbaren Bogengänge am Münsteraner Prinzipalmarkt flaniert, scheinbar weit entfernt von den „Dreckslöchern“ weiter südlich. (Zur Erinnerung: Während der EM hatte ein englischer Fan Gelsenkirchen als „Shithole“ verunglimpft.)

Ministerin Feller macht das gut

Ich finde, dass wir nach langer Zeit endlich mal wieder eine Schulministerin in NRW haben, die mutig an den richtigen Stellschrauben dreht, auch wenn das unangenehm ist – und auch nicht risikolos im Hinblick auf mögliche langfristige Nebenwirkungen. Denn natürlich kann das Abordnungssystem, wonach ein Lehrer bis zu zwei Jahre gegen seinen Willen versetzt werden kann, junge Menschen von einem Lehramtsstudium abschrecken. Ebenso können Einschränkungen für jene, die in Teilzeit unterrichten wollen, ohne dass es dafür zwingende familiäre Gründe gibt, den Lehrerberuf weniger attraktiv erscheinen lassen. Wer denkt da nicht an die „Work-Life-Balance“ der dahingehend übersensiblen Generation Z, was nicht nur die sich aus dem Berufsleben verabschiedende Boomergeneration nervt?

Ministerin Feller besucht Grundschule im Dichterviertel / Mülheim an der Ruhr
Dorothee Feller, die Schulministerin des Landes NRW von der CDU, hat sich bei der Bekämpfung des Lehrermangels bislang eine glatte „2“ verdient. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Andererseits tut Ministerin Dorothee Feller auch eine Menge für die angehenden Lehrkräfte: Quereinstiege wurden massiv vereinfacht; der verstärkte Einsatz von „Alltagshelfern“ in den Schulen (wir kennen diese schon aus den Kitas) verbessert die Arbeitsbedingungen vor Ort spürbar; nicht zuletzt hat die CDU-Politikerin dafür gesorgt, dass das Einstiegsgehalt für Lehrer an Grundschulen und in der Sekundarstufe I auf „A 13“ und damit auf das Niveau anderer Schulformen angehoben wurde. Das kostet das Land bis 2026 immerhin rund 900 Millionen Euro. Es ist erstaunlich, wie wenig Beachtung dieser eigentlich beachtliche Umstand in der schulpolitischen Diskussion noch findet.

Yvonne Gebauer war der Tiefpunkt

Stattdessen befinden sich Teile der NRW-Opposition in einem wenig konstruktiven Nörgel-Modus, der niemandem hilft. Die schulpolitische Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion, Franziska Müller-Rech, etwa kritisiert das Abordnungsverfahren. Stattdessen sollten Lehrkräfte direkt an den Mangelschulen eingesetzt werden. Doch hierfür die enstprechenden Anreize zu schaffen, fehlten der Ministerin wohl die Ideen, gibt Müller-Rech zu Protokoll. Ganz schön keck, finde ich, wenn man an die Leistungen der Vorgängerin Fellers denkt.

Wer war das noch gleich? Ach ja, Yvonne Gebauer, Müller-Rechs liberale Parteifreundin, die in der Corona-Krise mit ihrer Irrlichterei Schüler, Lehrer und Eltern fast an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte. Wir erinnern uns, wenn auch ungern.

Was es heißt, Staatsdiener zu sein

Und die abgeordenten Lehrerinnen und Lehrer, die das nicht wollen? Nein, das ist kein Spaß, und da ist jede Polemik fehl am Platz. Wer plötzlich 50 statt 5 Kilometer zur Arbeit zurücklegen muss, wer sein gewohntes Umfeld, seine Schülerinnen und Schüler aufgeben muss, um sich plötzlich in einer fremden und sehr viel schwierigen Umgebung zurecht zu finden, der leidet nachvollziehbar und hadert vielleicht mit seinem Schicksal.

Aber auch das bedeutet es, dem Staat zu dienen: Neben einem gesicherten Einkommen und einer zu erwartenden guten Rente oder Pension muss man zuweilen auch dahin, wo es weh tut. Es ist ja nicht für immer. Und die eine oder andere Erfahrung mag dann auch langfristig ihren Wert für die Betroffenen haben und einen schon guten Lehrer noch besser machen.

Auf bald.

PS: Ein wirklich innovatives Programm ist das „Lehramtsstipendium Ruhr“, mit dem künftige Lehrerinnen und Lehrer gezielt auf ihre Arbeit an einer Schule in herausfordernder Lage vorbereitet werden sollen. Das Stipendium ist ein Programm des Schulministeriums, der RAG-Stiftung und der Wübben Stiftung Bildung sowie der drei Ruhrgebietsuniversitäten Universität Duisburg-Essen, Ruhr-Universität Bochum und der Technischen Universität Dortmund. Lesen Sie hier, was angehende Lehrer dazu treibt, ausgerechnet in prekären Vierteln unterrichten zu wollen.

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