Oberhausen/Essen. Über Missbrauch durch Kleriker wird im Bistum Essen nicht mehr geschwiegen. Die Opferperspektive, sagen zwei Betroffene, käme dennoch zu kurz.

Im Frühjahr 2023 wird eine Studie zum sexuellen Missbrauch im Bistum Essen veröffentlicht, die „alles aufdecken soll, was Missbrauch begünstigt hat“, wie Bischof Franz-Josef Overbeck verspricht. Betroffene befürchten, dass erneut die Täter im Mittelpunkt stehen werden und wie bei so vielen Studien zuvor die Perspektive der Opfer zu kurz kommen könnte. Rolf Fahnenbruck (68) und Stephan Bertram (59) wurden Opfer, dies sind ihre Geschichten.

Die beiden Männer sind Mitglieder des Betroffenenbeirats des Bistums und wollen andere Menschen, die Opfer solcher Verbrechen wurden, ermutigen, ebenfalls ihre Geschichten zu erzählen. „Die meisten missbrauchten Menschen haben auf irgendeine Art um Hilfe gerufen, wurden aber nicht gehört.“ Die Täter wurden geschützt, die Opfer allein gelassen. So brodelten Scham, Schuldgefühle, Zorn, Wut und Hilflosigkeit oft Jahrzehnte lang unter der Oberfläche.

Rolf Fahnenbruck: Drei Jahre lang missbrauchte und quälte ihn ein Küster

Er war elf, als es anfing, da lernte Rolf Fahnenbruck seinen „Peiniger“ kennen – bei der „Weihung des Palmöls“ kurz vor Ostern 1965 im Essener Dom, zu der er als Messdiener der Oberhausener St.-Marien-Gemeinde eingeladen war. Der Mann, den er dort zum ersten Mal traf, der Mann, der ihm über drei Jahre lang Gewalt antun, ihn missbrauchen, quälen und verstümmeln sollte, war Küster und Organist einer anderen katholischen Gemeinde seiner Heimatstadt, St. Josef. Er bot sich an, dem Jungen Klavierunterricht zu erteilen. „Ein schmächtiger, großer Mann mit schütterem Haar, um die 60 damals“, erinnert sich Fahnenbruck. Er mochte ihn auf Anhieb.

Sein Elternhaus beschreibt der heute 68-Jährige als „gutbürgerlich, aber wenig interessiert an mir“; er sei mehr oder weniger auf der Straße aufgewachsen. Bei dem Küster,der in einem Ein-Zimmer-Apartment („Klavier, Tisch und ein schmales, altes Holzbett“) direkt neben der Kirche lebte, habe er sich wohl gefühlt. Der Mann habe ihn „unglaublich liebevoll“ behandelt, ihm oft Plätzchen und Kakao serviert; rasch habe sich über die Klavierstunden ein inniges Verhältnis entwickelt. „Ich hab ja sonst niemanden gehabt...“, sagt Fahnenbruck – so, als ob er sich rechtfertigen wolle.

Als er sich dem Vater anvertraute, kassierte er dafür Prügel

Rolf Fahnenbruck arbeitete als Psychotherapeut. Wer reden möchte, dem hört er noch heute gerne zu.
Rolf Fahnenbruck arbeitete als Psychotherapeut. Wer reden möchte, dem hört er noch heute gerne zu. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Hatte das Kind zu üben vergessen, setzte es aber auch regelmäßig Prügel, mit einem Stock schlug der Klavierlehrer Rolf Fahnenbruck auf die Hände, später „auf den nackten Hintern“. „Aber das kannte ich von zuhause und aus der Schule, das war normal“, sagt der noch heute. Er, der kleine Rolf, sei vom Teufel besessen, erklärte der Küster irgendwann dem Kind. Doch wenn er, der Küster, ihm „sehr nahe“ sei, könne der Teufel ihm nichts. Deshalb ließ ihn das Kind gewähren, als die Annäherungsversuche drängender wurden, der alte Mann ihn schließlich zu vergewaltigen versuchte; es „unendlich weh tat“; deshalb akzeptierte er, dass die Befriedigung des Küsters eine „Übung“ war, „um ein besserer Mensch zu werden, in den Himmel zu kommen“.

Doch dann, berichtet Rolf Fahnenbruck, habe sein Klavierlehrer begonnen, ihn mit heißem Wachs zu beträufeln, mit einer Schere zu verletzten, Pfeffer in die Wunden zu reiben. „Wer den Schmerz aushält, verärgert den Teufel“, habe er dem Kind erklärt. „Ich hab den geliebt“, sagt Fahnenbruck, „deshalb durfte der das.“ Erst im dritten Jahr seiner Pein offenbarte sich der Junge verzweifelt seiner Familie – und kassierte dafür Prügel vom Vater. „Du bringst nur Schande über uns mit deinen Lügengeschichten“, schimpfte der. „So sind sie halt, die Pfaffen“, sagte die Oma.

Viermal versuchte er sich das Leben zu nehmen

Rolf Fahnenbruck war 13, als sein Martyrium endete. Am Tag vor seinem 14. Geburtstag erlitt er bei einem Unfall im Garten der Nachbarn schwerste Verbrennungen am rechten Arm und am Kopf. Ein Jahr lang blieb er im Krankenhaus, musste immer wieder operiert werden. Die Ärzte entdeckten dabei auch schlimmste Wunden im Intimbereich des Jungen, Folgen der Folter. Sie sagten, auch die müssten später operiert werden, „sonst wirst du nie normalen Geschlechtsverkehr mit einer Frau haben können“. Der Mann, der ihm diese Verletzungen zugefügt hatte, versuchte ihn zu besuchen. Die Nonnen, die das Kind betreuten, erlaubten es nicht. Rolf Fahnenbruck sah seinen Peiniger nie wieder.

Und bekam sein Leben doch nicht in den Griff. Mit 14 war er „schwerer Alkoholiker“. In der Schule kam er überhaupt nicht mehr zurecht, eine Lehre schmiss er nach kurzer Zeit. Viermal versuchte er sich, das Leben zu nehmen. „Es gab nur noch Ärger“, erinnert sich Rolf Fahnenbruck, „Ich fing grundlos Streit an, war immer der, der noch einmal zutrat, wenn jemand schon am Boden lag“. Mit vier Promille Alkohol im Blut landete er in der Notaufnahme, da war er 16.

„Ich packte alles in einen Topf und den Deckel darauf“

Ein Sozialarbeiter nahm sich seiner an, organisierte Entgiftung und Therapie. „Ich willigte ein, mir war klar, sonst würde ich in der Gosse verrecken. Ich schämte mich entsetzlich für die Gewalt, die Aggressionen, die in mir steckten.“

Es gab Rückfälle, Schicksalsschläge, es wurde kein leichtes Leben –  aber Rolf Fahnenbruck machte schließlich doch seinen Weg. Er blieb „trocken“, fand eine Anstellung, heiratete, wurde Vater, machte eine Ausbildung – und packte das Schreckliche, das man ihm angetan hatte, schließlich „in einen Topf und den Deckel darauf“. Er verdrängte das Geschehene. Ob er weniger aggressiv gewesen wäre, weniger getrunken hätte, weniger Probleme gehabt hätte, wenn er nicht erlebt hätte, was er erlebt hat: Er sagt, er wisse es nicht. „Mir war immer klar, da ist etwas ganz Schlimmes passiert. Aber ich war ja Teil davon, ich hab es zugelassen, mich vielleicht zu wenig gewehrt.“

„Die Entschädigung war okay für mich, aber nicht wichtig“

Als 2010 der Missbrauchsskandal im Berliner Canisius-Kolleg öffentlich wurde, sein Peiniger war da längst tot, „begann es unter dem Deckel im Topf zu brodeln“, sagt Fahnenbruck. Er vertraute sich seiner damaligen Frau an und wandte sich tags darauf ans Bistum Essen. „Es gab ein kurzes Gespräch und ein Protokoll“; der Bischof bat schriftlich um Entschuldigung und überwies 13.000 Euro als Entschädigung. „Das war okay für mich“, sagt Rolf Fahnenbruck. „Aber es war nicht wichtig. Uns Betroffenen hört niemand wirklich zu. Das ist unser größtes Problem. Doch erst, wenn man sich öffnet, wird die Last leichter.“

Heute ist Rolf Fahnenbruck Sprecher des Betroffenenbeirats im Bistum Essen. Und hört anderen zu. Er selbst sei inzwischen sehr glücklich, habe seinen „Frieden gemacht“, sagt er. Der Mann, der ihm soviel Leid zufügte, sei selbst ebenfalls Opfer gewesen, ein Getriebener. Er wolle die Kirche „auch nicht vorführen“, viele Priester leisteten „tolle Arbeit“. Doch es sei entscheidend, dass das Geschehene nicht vergessen werde – und dass es aus der Opferperspektive erzählt werde. Vielleicht auch mal auf einer Sitzung eines Pfarrgemeinderats.

Stephan Bertram vor dem Essener Dom. Vom Bistum fühlte er sich zunächst allein gelassen.
Stephan Bertram vor dem Essener Dom. Vom Bistum fühlte er sich zunächst allein gelassen. © Unbekannt | Privat

Stephan Bertram: Er hat mein Leben zerstört

Stephan Bertram war Messdiener in der Propsteikirche St. Cyriakus in Bottrop, als er den charismatischen und beliebten Kaplan Peter H. kennenlernte. Der Junge wurde in einer tiefkatholischen Familie groß. „Mein Opa hatte zehn Geschwister, vier davon waren Nonnen“, erzählt Bertram (59). Die Kirche war jeden Sonntag gut gefüllt, denn der Priester habe „mit seinem Charme, seiner Freundlichkeit und seinem einnehmenden Wesen die Herde mitgezogen“, erinnert er sich.

Es war Mitte der 70er-Jahre, das genaue Datum weiß er nicht mehr, da fuhren die Messdiener mit dem Kaplan zu den Karl-May-Festspielen nach Elspe. Da ihn seine Eltern nach dem aufregenden Ausflug nicht abholen konnten, schlug der Kaplan vor, dass er bei ihm übernachten kann. „Selbstverständlich nahm ich das Angebot an, da ich mich immer bei ihm gut aufgehoben gefühlt hatte“, erinnert sich Bertram, der zu dieser Zeit zwölf Jahre alt war.

Bier und Schnaps für den Jungen

Der Kaplan gab dem Jungen Bier, Cola mit Schnaps und Zigaretten, sie schauten gemeinsam Fernsehen, bis er ihm das Gästezimmer zeigte. „Es dauerte einige Zeit, bis die Tür aufging und er nackt vor mir stand und er seine sexuellen Gelüste an mir vollzog“, wie es Bertram formuliert. Der Kirchenmann streichelte ihn, küsste und berührte ihn überall und vergewaltigte ihn schließlich. „Er hat mir durch seine Lust und seine Macht mein ganzes Leben zerstört“, sagt Bertram heute. Es blieb nicht bei diesem einen Mal.

Der Junge schwieg, er fürchtete, dass keiner ihm glauben würde - und der Kaplan wusste sehr gut, „dass mein Vater streng war und ich auch mal Prügel bezog“. Er schämte sich, hatte Angst, fürchtete sich, erneut in die Kirche zu gehen oder gar als Messdiener zu dienen - und konnte das Geschehene doch nicht richtig verstehen und einordnen. „War ich schuld?“, fragte er sich immer wieder.

Selbstmordversuch mit 25 Jahren

Sein Leben stand fortan unter dem Schatten der Missbrauchstaten. Eine Ausbildung zum Elektriker schmiss er. Er verpflichtete sich für vier Jahre bei der Bundeswehr, Probleme spülte er mit Alkohol hinunter. Er versuchte, sich umzubringen, da war er 25 Jahre alt. „Mein Leben war von vorne bis hinten verkorkst.“ Er sprang von einer Arbeitsstelle zur nächsten, konnte nie lange durchhalten. „Sobald es Probleme gab, war ich verschwunden.“ Eine erste Ehe scheiterte.

Nach Jahrzehnten vertraute sich Stephan Bertram 2011 einem alten Freund an „Ich ließ innerlich los. Er war die erste Person, der ich von meinen schrecklichen Erlebnissen erzählen konnte.“ Der Freund riet ihm, sich beim Bistum Essen zu melden, um den Fall aktenkundig zu machen. „Mein ganzer Körper zitterte. Da saß ein Mensch in Amtstracht, was mich noch mehr verunsicherte.“ Irgendwann kam ein Scheck über 4000 Euro – „und das war es dann“. Das Bistum, sagt Bertram, „ließ uns Opfer wieder allein, weil sie glaubten, sie hätten alles getan“.

Enttäuscht vom Bistum

2013 lernte er seine zweite Frau kennen, er fühlte sich von ihr angenommen und verstanden. Sie riet ihm, therapeutische Hilfe zu suchen. 2019 kam er in eine Traumaklinik, doch es fehlte eine Anschlussbetreuung. Er bat das Bistum um Hilfe und bekam als Antwort: Gehen Sie bitte zu Ihrer Krankenkasse oder rufen Sie unter der Telefonnummer 117118 an, so schildert er es heute. „Da platzte mir die Hutschnur.“ Schließlich fand das Bistum einen Therapieplatz für ihn und übernahm auch die Kosten.

Bertram ist bis heute wegen seiner wiederkehrenden Alpträume und Angstzustände in Therapie und seit Ende 2019 berufsunfähig. Sein Peiniger ist wegen Missbrauchsfällen in Essen und München strafrechtlich verurteilt und aus dem Priesterstand entlassen worden. Peter H. lebt seit 2020 wieder in Essen. Für Stephan Bertram war die Rückkehr des Kaplans ein Schock. „Nun ist er freier Mann, kann seine Rente beantragen und steht nicht mehr unter der Aufsicht des Bistums.“ Stephan Bertram aber verfolgen die Taten bis heute.

Anderen Betroffenen rät er: „Sprecht mit Euren Kindern, Partnern, Eltern, Freunden. Seid ehrlich und hört einfach zu.“

Rolf Fahnenbruck ist als Sprecher des Betroffenenbeirats des Bistums Essen unter rolffahnenbruck@gmx.de direkt zu erreichen. Unabhängige Ansprechpartnerinnen beim Bistum sind Mechtild Hohage und Anke Kipke.