Jahrelang wurde der Oberhausener von einem Küster gepeinigt. Das Bistum zahlte ihm nun eine Rekordsumme. Gefreut hat es ihn nicht.

Der Anruf der Bank kam noch vor dem Bescheid: 250.000 Euro seien auf seinem Konto eingegangen, erklärte man Rolf Fahnenbruck. Nach dem Geldwäschegesetz sei man verpflichtet zu fragen: Wofür er eine so hohe Summe erhalte? Der 70-Jährige sagte nur: „Schauen Sie auf den Absender. Erklären tue ich es nicht.“

Nicht schon wieder. Nicht noch einmal erzählen, was ihm als Kind, als Messdiener im Bistum Essen unvorstellbar Furchtbares geschah. Dass ein Küster ihn verstümmelte. Dass ihn der Missbrauch traumatisierte, in den Alkoholismus, die Gewalttätigkeit und vier Suizidversuche trieb. Dass er sein Leben bis heute prägt. Und dass ihm im „Verfahren zur Anerkennung des Leids“ deswegen nun insgesamt 330.000 Euro zugesprochen wurden. Es ist die bislang höchste Summe für ein Missbrauchsopfer der katholischen Kirche.

Ein Mann als Pfleger im Alter – „unvorstellbar“

80.000 Euro hatte Fahnenbruck auf frühere Anträge bereits erhalten, den ersten stellte er 2010. Mit maximal 20.000 weiteren Euro hatte er nun gerechnet. Dass es 250.000 wurden, „hat mich total überrascht“, erzählt der Rentner am Telefon, seit 2018 lebt er in Bayern. Gefreut – hat es ihn im Grunde nicht. „Obwohl das Geld eine Beruhigung ist. Ich kann mein Alter jetzt besser planen, mir davon eine gute Versorgung leisten, wenn ich pflegebedürftig werde.“ Eine Pflegerin für daheim oder ein Einzelzimmer im Heim vielleicht – denn einen Mann im Bett neben sich, einen Mann als Pfleger: Das ist für ihn unvorstellbar. „Jede Form von körperlicher Nähe durch einen Mann ist mir noch heute unerträglich.“

Am Antrag für die UKA, die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen, habe er drei Wochen gesessen. Nicht nur wer, wann und wo gelte es darin aufzulisten, sondern vor allem, die Folgen des Missbrauchs deutlich zu machen. Das habe ihn „unheimlich belastet“, alte Wunden aufgerissen. „Nachts, wenn ich im Bett liege, kommt nun wieder der Geschmack des Täters hoch, der fahle, ekelhafte Geschmack eines alten Mannes.“ Wellenartig überfielen ihn auch andere Erinnerungen. Details, die er längst vergessen wähnte, seien plötzlich wieder präsent, dass sein Peiniger, der ihn wiederholt mit einem Skalpell verletzte, danach nicht nur Wachs in seine Wunden streute etwa – sondern später auch Pfeffer, „weil das mehr schmerzte“.

„Andere haben viel Schlimmeres erlebt“

Drei Jahre lang quälte der Täter, ein Mann um die 60, Küster und Organist der Oberhausener St. Josef-Gemeinde, Rolf Fahnenbruck, der damals Messdiener in der St. Marien-Gemeinde war – und zu Beginn des Missbrauchs gerade einmal elf Jahre alt. Vor zwei Jahren erzählte Fahnenbruck – da war er noch Sprecher des Betroffenenbeirats im Bistum Essen – der WAZ seine erschütternde Geschichte. „Andere haben viel Schlimmeres erlebt“, betonte er.

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Gemein sei allen Opfern: dass ihnen zunächst niemand glaubte. Als Fahnenbruck sich seinem Vater anvertraute, setzte es Prügel, weil das Kind „Schande über die Familie“ brachte. Er käme in die Hölle wegen solcher Lügengeschichten, versprach der Pfarrer und die Oma sagte nur: „So sind sie halt, die Pfaffen.“ Im Schreiben der UKA, das Rolf Fahnenbruck Mitte Juni in seinem Briefkasten fand, heißt es nun: „Angesichts der geschilderten Taten und ihrer Folgen sowie des Umgangs mit dem Fall durch verantwortliche Personen wird eine materielle Leistung in der festgesetzten Höhe, auch unter Berücksichtigung vergleichbarer Taten, für angemessen, aber auch erforderlich gehalten.“

„Es gibt viele Fallstricke. Viele Betroffene quälen sich durch die Anträge, werden darüber ganz mutlos.“

Rolf Fahnenbruck,
Missbrauchsopfer

Die UKA war im Januar 2021 von der Katholischen Kirche eingerichtet worden, Betroffene müssen sich seither an sie wenden, zuvor lagen die Zahlungen im Ermessen der einzelnen Diözese. Liegt die Anerkennungsleistung, die die UKA für richtig hält, über 50.000 Euro, muss die Kirche vor Ort allerdings noch immer zustimmen. „Bemerkenswert“ findet Rolf Fahnenbruck, dass das Bistum Essen seine „extrem hohe Summe“ einfach durchwinkte. „In anderen Bistümern läuft das viel weniger reibungslos.“ Beim Essener Generalvikar Klaus Pfeffer hat er sich dafür förmlich bedankt, am kommenden Freitag sei man für ein Gespräch verabredet.

Heute berät das Missbrauchsopfer andere Betroffene

Fahnenbruck sagt heute, er sei mit sich im Reinen; er habe ein gutes Leben, eine tolle Partnerin. Dem Täter, der längst nicht mehr lebt, habe er vergeben. Wofür er nun ehrenamtlich kämpft, seit er der Folgeschäden des Missbrauchs wegen früh verrentet wurde, ist: Dass niemand mehr das erleiden muss, was er erleiden musste. Dass keinem Kind, keiner Frau, keinem Mann mehr sexuelle Gewalt angetan wird. In seiner neuen Heimat gründete er dazu die Betroffeneninitiative BIN, er berät zudem Betroffene, die einen Antrag auf Anerkennung des Leids bei der UKA stellen wollen; das Verfahren sei kompliziert und intransparent. „Es gibt eine Menge Fallstricke. Viele Betroffene quälen sich durch die Anträge, werden darüber ganz mutlos.“

Den Glauben habe ihm sein Peiniger indes nicht nehmen können, sagt Fahnenbruck. „Das war er nicht wert.“ Der 70-Jährige ist noch immer nicht aus der Kirche ausgetreten, besucht regelmäßig die Gottesdienste. Und er sagt: Viel habe sich bereits zum Besseren gewendet, seit 2010 der Missbrauchsskandal im Berliner Canisius-Kolleg öffentlich wurde – und auch er nach 40 Jahren sein Schweigen brach. „Man hat gerade im Bistum Essen dazu gelernt, Strukturen verändert, Hilfs- und Therapieangebote aufgebaut.“ Und, was ihm am wichtigsten ist: „Das Bistum bringt das Thema Missbrauch jetzt in die Pfarrgemeinden.“

Bistum Essen zahlte bereits 3,3 Millionen Euro aus

194 Anträge auf Anerkennungsleistungen wurden im Bistum Essen bis Ende vergangenen Jahres gestellt. Nach Angaben des stellvertretenden Pressesprechers Jens Albers ist über 152 Anträge bereits entschieden worden. Das Bistum habe bislang exakt 3,258 Millionen Euro ausgezahlt. Die Mittel stammten aus dem Erlös von Immobilienverkäufen.

„Das Geld“, sagt Fahnenbruck, „hilft. Aber wir Opfer wollen vor allem, dass man uns zuhört.“ Er selbst machte irgendwann eine Psychotherapeuten-Ausbildung und hört noch immer zu. Heute Nachmittag der Frau eines gewalttätigen Mannes. Ein Leben lang habe er sie und die Kinder gequält, erzählte die Frau ihm vorab. Sie könne das nicht mehr ertragen, aber sie wisse ja: Auch er war als Kind ein Missbrauchsopfer.