Von Vorfreude ist so gut wie nichts zu spüren: Warum es der Fußball diesmal so schwer hat, unser seelisches Gleichgewicht herzustellen.

Keine Deutschlandfahnen in den Fenstern, keine schwarz-rot-goldenen Überzieher auf den Außenspiegeln? Wer durch die Straßen geht oder in die Geschäfte guckt und nach EM-Spuren sucht, der sieht erstmal: nichts. Die Fußball-Europameisterschaft steigt im eigenen Land, hier in NRW wird gleich in vier Städten gespielt, die Polizei ist vorbereitet, Hoteliers und Wirte sind es, womöglich sogar die Bahn. Und wir, die wir uns jetzt auf ein großartiges Fest vor der Haustür freuen sollen? Sind gerade nicht in Stimmung. Man kann es verstehen.

Natürlich wissen nicht nur Anhänger aus Erfahrung, welche Kraft der Fußball auch gesellschaftspolitisch entfalten kann und das nicht erst seit dem zigfach beschworenen Sommermärchen 2006, dem längst eine ähnliche Bedeutung angedichtet wird wie dem 54er-Finale von Bern. Keine Frage: Wenn die Nationalelf zum Auftakt nicht gleich patzt, dann dürfte sich die Laune gewiss bessern, und wir werden fröhliche Feierbilder quer durch die Republik sehen. Übrigens: Ganz egal, welches Trikot die deutsche Mannschaft trägt.

Die gesamtdeutsche Stimmung ist gedrückt

Aber selten vor einem solchen Turnier war die gesamtdeutsche Stimmung so gedrückt, wie man sie gerade wahrnimmt. Krisen, Kriege und Rechtsextremismus sind uns so nahe gekommen, dass alte Gewissheiten verfliegen. Unsicherheit greift um sich, viele Sorgen sind berechtigt, die unberechtigten in aufgeheizten Zeiten immer schwerer mit Argumenten auszuhebeln. Fest steht: Es gibt eben gerade viele andere Themen als Fußball. Themen mit Gewicht, die ein bisschen Zerstreuung nicht einfach von der Tagesordnung verdrängen kann.

Man darf von der Wirkung des Fußballs diesmal nicht zu viel erwarten, selbst wenn er einmal mehr das kollektive Selbstgefühl stärken kann. Freuen wir uns auf die EM um die Ecke - aber dass wir jetzt nicht sofort in Euphorie verfallen, ist vollkommen angemessen.

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