Essen. Ein Mann aus Essen hat den Kontakt zu seinem Sohn verloren. Er möchte ihn gerne wiedersehen. Und ihm erzählen, dass er heute Geschwister hat.

Wenn sich Ulrich* das Foto aus dem Griechenland-Urlaub Mitte der 1980er-Jahre anschaut, muss er lächeln: „Ich wollte ihn ans Wasser gewöhnen.“ Dafür ließ der Essener seinen Sohn mit den Füßen über dem Pool des Hotels baumeln. „Mittlerweile bekommt man ihn nicht mehr aus dem Wasser“, sagt Ulrich. Wobei ganz genau weiß er es nicht: Ob sein Sohn sich wirklich immer noch im Wasser wohlfühlt? Denn er hat ihn eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. „Wir haben leider Gottes seit über zehn Jahren wegen einer blöden Familiengeschichte überhaupt keinen Kontakt mehr.“

Sein erwachsener Sohn müsste mittlerweile 39 Jahre alt sein. Ulrich denkt gerne zurück an die Zeit, als sein Sohn noch klein war. Die Ehe mit der Mutter war zwar zu Bruch gegangen, aber alle zwei Wochen war sein Junge bei ihm. Die Erinnerungen sprudeln nur so: „Er war viel mit mir an der Nordsee; er war eine absolute Wasserratte; ich habe viele Fahrradtouren mit ihm unternommen; wir haben ganz Deutschland bereist.“

Der Sohn lebte zeitweise bei ihm

Und auch als der Junge älter wurde, habe der Sohn ab und zu bei ihm gelebt. „Ich hatte auch kein Problem, wenn er und seine Kumpels hier saßen und irgendwelche Spiele gemacht haben und sich nebenbei einen Joint reingeschmissen haben“, sagt der 67-Jährige. Er habe sich nie den Kopf darum gemacht, dass der Sohn abrutschen könnte. „Er hat hier alle Freiheiten genossen.“ Und er sei für ihn da gewesen, wenn es brenzlig wurde.

Ulrich erinnert sich an einen Anruf, als der Sohn noch in Mülheim zur Schule ging. „Ich habe ihm das Schokoticket bezahlt. Keine Ahnung, was er damit gemacht hat, jedenfalls ist er dreimal erwischt worden, ohne Ticket“, sagt Ulrich. „Er durfte auf der Polizeiwache einen Anruf tätigen. Und wen hat er angerufen? Mich hat er angerufen. Weil er ganz genau wusste, ich komme sofort und helfe ihm da raus“, meint Ulrich. „Was mache ich? Ich setze mich in ein Taxi, weil ich schon ein Glas Wein getrunken hatte, bin dann zur Polizei gefahren, habe das bezahlt. Habe ihm gesagt: ,Das wirst du mir irgendwann zurückgeben müssen.‘“ Doch das Geld habe er nie wiedergesehen.

„Ich habe meinen Erstgeborenen aus meiner Sicht ein ganz schönes Leben erlaubt. Ich habe ihn finanziell unterstützt, von vorne bis hinten.“ Dann erbte Ulrichs Mutter. „Das Erbe hat die ganze Familie, abgesehen von meinen Eltern und mir, zerrissen.“ Es sei nur noch ums Geld gegangen, jeder wollte ein bisschen abgraben. „Ich habe bemerkt, wie blöd Familie sein kann, wenn ein bisschen Geld im Spiel ist. Das war ziemlich übel.“

Der Sohn klagte den Vater an

Das Schlimmste jedoch: „Von dem Zeitpunkt an hat mein Erstgeborener angefangen, gegen mich zu klagen“, sagt Ulrich. „Was ich überhaupt nicht verstanden habe, weil er jederzeit von mir hätte Geld kriegen können.“ Der Sohn wollte nach seiner Ausbildung noch studieren und schaltete einen Rechtsanwalt ein, so der Vater. „Und dann durfte ich die ersten sechs Semester noch volles Programm bezahlen und seitdem habe ich ihn nur noch einmal gesehen: 2018, als meine Mutter beerdigt wurde, und seitdem kein Kontakt mehr, kein Telefonat, kein Nichts, kein Garnichts mehr.“ Ulrich findet das „sehr, sehr schade“.

Vater sucht Sohn
Alle zwei Wochen verbrachte der Sohn das Wochenende beim Vater in Essen. Das Foto zeigt sie zusammen, ähnlich „lässig“ gekleidet. © privat | Privat

Aber solch ein Bruch entsteht ja nicht von heute auf morgen, wenn das Verhältnis zwischen Vater und Sohn zuvor gut war. Da muss es doch schon vorher ein Missverständnis gegeben haben? Ulrich atmet geräuschvoll aus. „Aus meiner Perspektive ist er mit falschen Leuten aus meiner Familie zusammengekommen und hat sich da falsch beraten lassen. Anstatt von vornherein den Weg zu suchen, den wir immer gegangen sind – mit mir zu reden – ist er hingegangen und hat sofort einen Rechtsanwalt eingeschaltet. Also: Mit Kanonen auf Spatzen schießen. Das hat mich zurückgeschlagen: Warum redet der Junge nicht mit mir?“

Der Sohn hat sich nie wieder gemeldet

Und dann war nur noch Schweigen zwischen Vater und Sohn. Ulrich wünschte sich wieder Kontakt. Ein paar Mal habe er versucht, seinen Sohn wiederzusehen. „Aber ich habe weder eine Telefonnummer noch eine aktuelle Adresse oder sonst irgendetwas von ihm.“ Vielleicht wäre eine Suche über die Sozialen Medien erfolgreich? „Der Name ist zu häufig und vielleicht hat er auch den Namen geändert“, sagt Ulrich. „Ich hatte überlegt, einen Rechtsanwalt einzuschalten, aber dann dachte ich: Scheiß drauf, soll er glücklich und zufrieden werden, er wird sich schon irgendwann wieder melden. Aber das hat er, leider Gottes, nicht getan.“

„Er weiß nichts von seinen Geschwistern und wird es auch nie erfahren, so kann auch Familie sein!“, sagt Ulrich entmutigt. Was würde er tun, wenn sein „Erstgeborener“ heute vor seiner Tür stehen würde? „Ich kann es ehrlich gesagt nicht voraussagen. Ich schwanke zwischen: Tür vor der Nase zuknallen. Und: ,Okay, setz dich, was willst du mir erzählen?‘ Zwischen den beiden Punkten schwanke ich.“ Ulrich denkt nach, lässt vor seinem inneren Auge den verlorenen Sohn lebendig werden. Nein, nicht der Ärger würde siegen. „Ich würde dazu tendieren zu sagen: ,Okay, erzähl, was ist los? Warum jetzt? Warum kommst du nach so langer Zeit vorbei?‘“

Der verlorene Sohn hat Geschwister, von denen er nichts weiß

Und dann würde er seinem Sohn erzählen, dass sich die Familie vergrößert hat.

Dass er Vater eines weiteren Sohnes ist, hat ihn selbst von den Socken gehauen. 2012 kam der Anruf. Er war im Urlaub, saß auf der Terrasse eines Lieblingshotels am Meerfelder Maar, einem beruhigten Vulkankrater in der Eifel. „Da entspanne ich immer ganz gerne.“ Und da bekam er den Anruf. Der Name sagte ihm zunächst nichts. Doch schließlich erinnerte sich Ulrich wieder an den Jungen, und an dessen Mutter, die mal zu Besuch bei ihm waren. Sein erster Sohn habe sogar kurz mit ihm gespielt. „Ich habe mich nur gewundert: Sie hatten sich nie gesehen, aber sie haben sich sofort blind verstanden.“

Plötzlich zum zweiten Mal Vater

Ulrich erzählt von dem Gespräch aus dem Gedächtnis:
Anrufer: Ich werde heute 18.
Ulrich: Glückwunsch, das finde ich aber schön, dass du anrufst.
Anrufer: Ja, ich werde mich kurzfassen, du musst dir keine Sorgen machen, ich will nichts von dir, ich melde mich ab und zu bei dir, brauchst ansonsten nichts von mir zu befürchten.
Ulrich: Wieso soll ich denn etwas befürchten?
Anrufer: Ja, ich bin jetzt 18 und die Mama hat mir gerade erzählt: Du bist mein Vater!

„Da schmeckte das Bier noch mal so gut“, sagt Ulrich ironisch. Er brauchte einen Moment, um wirklich zu verstehen, was der junge Mann ihm da gerade mitteilte. „Kann das überhaupt sein?“, überlegte er. Ja, das war gut möglich. Er hatte die Mutter damals auf einer Firmenfeier getroffen. „Da trinkt man schon mal das eine oder andere Glas. . .“ Ulrichs Stimme stockt. Er muss kräftig schlucken. Er denkt daran, was er alles verpasst hat. Die ganze Kindheit seines zweiten Sohnes. „Ich wusste nur, dass er mit einer großen Familie aufgewachsen ist, in einem schönen Umfeld – das habe ich mir im Nachhinein schön geredet.“

Der Kontakt zum zweiten Sohn schlief auch ein

Sie schrieben sich Mails. Aber auch der Kontakt zum zweiten Sohn schlief ein...

Anonymisierter Bericht

Dieser Artikel erscheint anonymisiert, damit das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Sohnes nicht verletzt wird. Es ist seine Entscheidung, ob die Öffentlichkeit wissen soll, dass er keinen Kontakt mehr zum Vater wünscht. Über den Namen und das Foto des Vaters wäre der Sohn erkennbar. Die Redaktion nennt daher nicht die Namen und hat Sohn und Vater auf den Fotos unkenntlich gemacht. In anderen Fällen muss der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Betroffener manchmal zurückstehen, wenn das öffentliche Interesse an dem Sachverhalt überwiegt. Dies ist aber bei der Suche eines Vaters nach seinem Sohn, der den Kontakt offenbar bewusst abgebrochen hat, nicht der Fall.

„2018 bin ich noch mal Vater geworden, von einer wundersüßen Tochter“, sagt Ulrich. Auch sie lebt nicht bei ihm, aber er sieht sie regelmäßig. „Wenn sie nicht gerade in Deutschland ist, machen wir Videokonferenzen, ich habe einen Riesen-Spaß mit der.“ Die Mutter, eine Innenarchitektin, reise sehr viel. „Über den Jahreswechsel war sie in Dubai bei den Eltern.“ Aber wenn sie mit der Tochter in Deutschland ist, dann sehen sie sich auch, wenn es irgendwie möglich ist. „Dann freue ich mich tierisch.“

Nach dem Unfall kam die Zeit des Grübelns

Er selbst ist ebenfalls immer viel gereist, zuletzt war er in der Antarktis. „Es sollte eine Traumreise werden, ich habe alle Kontinente weltweit besucht, das fehlte mir noch. Das konnte ich mir letztes Jahr leisten. Am 24.12. bin ich leider Gottes einmal durch die Schiffskabine geflogen und so ziemlich alles, was man im Unterschenkel hat, ist gebrochen. Und seitdem bastele ich daran herum.“

Seit dem Unfall hat Ulrich viel Zeit. Zeit, in der er ins Grübeln kam, über sein Leben, seine Familie.

Vor seinem Unfall hat Ulrich Callcenter aufgebaut und zuletzt als Kommunikationstrainer gearbeitet: „Weil ich feststelle, dass in vielen Bereichen mangelnde Kommunikation oder fehlende Kommunikation die Ursache allen Übels ist.“ Vielleicht bekommt er noch mal eine Chance, mit seinem ersten Sohn zu reden? Die Kontaktdaten des Vaters haben sich nicht geändert. „Er hat meine Telefonnummer, er hat meine Adresse“, sagt Ulrich – voller Hoffnung. „Ich würde schon ganz gerne wissen, wie es ihm geht. Und ob ich vielleicht schon Großvater bin?

* Name von der Redaktion geändert – siehe Infokasten

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