Essen. Franziskus hat mit seinem Gerede von der „weißen Fahne“ für schieres Entsetzen gesorgt. In der Essener CDU schämt man sich dafür sogar.

Darf man das? Darf man schreiben, dass der Papst nicht mehr alle Tassen im Schrank hat? Ist es ungehörig, das Oberhaupt der katholischen Kirche derart polemisch zu kritisieren – oder sogar geradezu geboten angesichts seiner jüngsten Äußerungen?

Nachdem Franziskus die Ukraine zu Friedensverhandlungen mit Russland aufgefordert und von einem, so wörtlich, „Mut der weißen Fahne“ gesprochen hatte, habe ich meinen privaten Facebook-Freunden diese Fragen gestellt und eine kontroverse Debatte ausgelöst. Der eine oder andere überzeugte Katholik zeigte sich durchaus tief betroffen und hielt mit mir die Äußerungen des Papstes für grundfalsch. Aber der Ton, so hieß es auch, solle respektvoll bleiben. Schließlich sei Franziskus kein böser Mensch. Vielmehr sei er um Frieden bemüht. Kann es eine vornehmere Aufgabe für einen Papst geben?

Es gab auch böse Päpste

Nein, ein böser Mensch ist Franziskus sicher nicht. Das liegt aber nicht per se an seinem Amt. Wirft man einen Blick zurück auf die vergangenen 2000 Jahre, dann findet man sicher nicht nur Heilige auf dem „Heiligen Stuhl“. Nehmen wir nur einmal Papst Gregor IX., der im 13. Jahrhundert die kirchliche Inquisition ins Leben rief. Der Mann hat tausende unschuldige Menschen auf dem Gewissen. Ich finde, man darf diesen Gregor IX. ganz nüchtern als Massenmörder bezeichnen. Das ist keine Meinung, sondern eine historische Tatsache. Nicht jeder Kirchenführer ist ein guter Mensch.

Schauen wir in die heutige Zeit, dann denke ich an den Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I.. Der Patriarch ist ein ehemaliger KGB-Agent und gehört zu den besten Freunden des Kreml-Diktators Putin. Er ist ein flammender Befürworter der sogenannten militärischen Spezialoperation in der Ukraine und beeinflusst auf seine Weise die Stimmung in der russischen Bevölkerung entscheidend mit. Wer mit halbwegs funktionierendem moralischen Kompass wollte bestreiten, dass dieser Kyrill I. ein abgrundtief böser Mensch, ein Verbrecher ist, ein fleischgewordener Antichrist. Papst Franziskus hat den Patriarchen zwar dafür kritisiert, sich zum „Messdiener Putins“ zu machen, bezeichnete ihn aber im selben Atemzug als geistlichen „Bruder“.

Wie naiv ist Franziskus?

Franziskus ist kein böser Mensch. Aber er ist offenbar erschreckend naiv. Es scheint, als plappere er darauf los, so dass die vielen Diplomaten im Vatikan anschließend aus dem politischen Scherbenhaufen heraus berichtigen und verharmlosen müssen, was kaum zu berichtigen und zu verharmlosen ist. Man kann das „sympathisch“ finden, weil Franziskus ja „kein gelernter Diplomat“ sei, wie ich in einigen Kommentaren gelesen habe. Man kann aber auch sagen, dass dieses Verhalten extrem verantwortungslos und damit ganz und gar nicht „sympathisch“ ist. Der Papst ist das Oberhaupt von weltweit 1,4 Milliarden Katholiken. Sein Wort hat Gewicht. Spätestens, wenn die radikalpopulistische Sahra Wagenknecht Beifall spendet, stellt sich doch die Frage, ob der Mann noch alle T...

Wöchentliche Papstaudienz auf dem Petersplatz
Erst denken, dann sprechen: Auch so eine Polemik, über die man sich streiten kann, wenn es um die Ukraine-Äußerungen des Papstes geht. © action press | ALESSIA GIULIANI / ipa-agency.ne

Stopp! Man solle sich bitte „differenzierter“ zu Franziskus äußern, schrieb mir ein Facebook-Freund ins Stammbuch. Was aber gibt es zu differenzieren, wenn er mit Blick auf die Ukraine von der „weißen Fahne“ spricht, einem internationalen Symbol für Kapitulation, wenn er nicht Russland, den Aggressor, auffordert, das Blutvergießen zu beenden, sondern den Angegriffenen, das Opfer? Die Ukraine solle sich nicht aus Scham weiter unnütz verteidigen. Ob dem Papst entgangen ist, dass es um die pure Existenz der Ukrainerinnen und Ukrainer geht? Die verteidigen sich nicht aus Scham, sondern aus purer Angst um ihr Leben und um ihre Freiheit. Man muss kein „gelernter Diplomat“ sein, um das zu erkennen.

Primitiver Pazifismus

Was genau also soll die Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt dem skrupellosen Herrscher in Moskau anbieten? Eine Teilunterwerfung? Wie viele Frauen, Männer und Kinder soll Kiew opfern? Nein, Tassen hin, Tassen her, die Äußerungen von Franziskus sind skandalös und im Ergebnis verheerend. Wer in einem Krieg auch dann in gleicher Weise Distanz zu den Kriegsparteien hält, wenn es einen eindeutigen Angreifer und einen eindeutigen Angegriffenen gibt, der betreibt einen, wie es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ jetzt formulierte, „primitiven Pazifismus“, der der katholischen Kirche nicht würdig ist. Auch ein Christ darf und muss zu den Waffen greifen, um sich gegen einen Aggressor zu verteidigen.

Die „FAZ“ geht übrigens noch einen Schritt weiter. Sie hält die Einlassungen des Papstes zum Krieg gegen die Ukraine nicht für einen Ausrutscher und verweist auf dessen lateinamerikanische Herkunft. Aus dieser Perspektive heraus werden der Westen und die USA als westliche Führungsmacht ohnehin kritisch beäugt. So war es auch Franziskus, der der Nato vorgeworfen hatte, sie habe „vor den Toren Russlands gekläfft“, bevor Russland angegriffen habe. Der Subtext: Die Nato hat den Einmarsch provoziert und damit gleichsam verschuldet.

Essens CDU-Chef schämt sich

Ist der Papst vielleicht gar kein undiplomatischer Dahinplapperer, sondern ein Wiederholungstäter? Das ist keine rhetorische Frage. Ich weiß es wirklich nicht.

„Ich schäme mich als katholischer Christ einmal mehr für das Versagen der römisch-katholischen Kirche an zentraler Stelle.“ Dieser bemerkenswerte Klartext stammt von Matthias Hauer, seines Zeichens Essens CDU-Chef. Was das „C“ im Namen bedeutet, ist immer wieder Bestandteil der notwendigen Selbstreflexion dieser ehrwürdigen Partei. Gut so.

Schützenhilfe für Hauer kommt, wenig überraschend, von den ukrainisch-deutschen Vereinen in Essen: Bis heute vermisse er eine klare Verurteilung des russischen Angriffskrieges und der „Kriegshetze des Oberhauptes der russisch-orthodoxen Kirche“, so Thomas Schiemann im Namen von „Opora“ und „Odessa wir helfen“. An der Basis erlebe man eine andere Kirche: So hätten zahllose deutsche Katholiken und viele Pfarreien, auch in Essen, die ukrainischen Flüchtlinge hierzulande seit Kriegsbeginn unterstützt. „Dafür sind wir sehr dankbar“, so Schiemann. Diese Dankbarkeit ändere aber nichts an der Irritation über die Papst-Äußerungen.

Alle Hostien in der Patene?

Ein Kollege, der sich an der von mir angestoßenen Tassen-im-Schrank-Debatte via Facebook beteiligte, schlug vor, ich solle alternativ verklausuliert schreiben, der Papst habe nicht mehr alle Hostien in der Patene. (So heißt die Schale, in der das zum Abendmahl verwendete Brot liegt.) Ob das die Lösung ist?

Auf bald.

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