Essen. Während Nato-Fahrzeuge durch NRW rollen, tobt die Diskussion, ob wir uns auf die USA überhaupt noch verlassen können. Die Antwort ist ernüchternd

Auf der nach oben offenen Skala der Skrupellosigkeit und des offen zur Schau getragenen Irrsinns erreicht Donald Trump immer wieder neue Höchstmarken. Der frühere und vielleicht auch künftige US-Präsident hat vor ein paar Tagen im Stile eines Schutzgelderpressers nicht nur die Beistandsverpflichtung der Nato infrage gestellt, sondern den russischen Aggressor Putin sogar recht unverhohlen dazu ermuntert, nach der Ukraine ruhig auch das nächste europäische Land zu überfallen. Die Russen sollten „tun, was auch immer zur Hölle sie wollen“, sagte er wörtlich. Das ist so dumm und böse, dass es einem fast die Sprache verschlägt.

Dem Mann fehlen ja nicht nur ein paar Tassen im Schrank. Im Hinblick auf die globale Sicherheit – und dazu gehört auch die Sicherheit der USA selbst – geriert er sich als der berühmt-berüchtigte Elefant im Porzellanladen, der aufgrund eines mächtigen Sprungs in der Schüssel einen riesigen Scherbenhaufen hinterlässt. In den westlichen Regierungszentralen herrscht seitdem das blanke Entsetzen. Man muss nur einmal einen Blick in die Gesichter jener Politiker und Militärexperten werfen, die an der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz teilnehmen. Besonders finster blicken die Deutschen drein.

Ohne Atomwaffen erpressbar

Nicht ohne Grund findet vor allem auch auf deutschem Boden gerade eines der größten Nato-Manöver seit Jahrzehnten statt: Steadfast Defender (standhafter Verteidiger). 90.000 Soldatinnen und Soldaten nehmen daran teil. Die Übung „Brilliant Jump“ (genialer Sprung) gehört dazu: Das britische Militär probt eine möglichst rasche Verlegung von Truppen an die Ostflanke der Nato, um sich im schlimmsten Fall gegen einen konventionellen Angriff der Russen verteidigen zu können. 600 britische Armeefahrzeuge rollen durch Ostwestfalen-Lippe. NRW wäre im Kriegsfall ein zentrales Drehkreuz für Nato-Transporte. Auch deshalb, das haben viele nicht im Blick, ist es so essenziell, dass wir unsere marode Verkehrsinfrakstruktur ertüchtigen, vor allem die Brücken.

Münchner Sicherheitskonferenz
Was hätte er einem russischen Angriff auf Deutschland entgegenzusetzen? Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gibt vor jenem Hotel ein Statement ab, in dem die 60. Münchner Sicherheitskonferenz tagt. © DPA Images | Felix Hörhager

Die Nato – das ist unsere Lebensversicherung. Deutschland besitzt, anders als die Franzosen und die Briten, keine eigenen Atomwaffen zur Abschreckung. Im Rahmen der Nato-Beistandsverpflichtung ist es dafür unter den nuklear-strategischen Schutzschirm der USA geschlüpft. Dadurch wird es weniger erpressbar, denn ein potenzieller Angreifer muss damit rechnen, in einen Atomkrieg mit den USA verwickelt zu werden. In Artikel 5 des Nordatlantikvertrags heißt es: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als Angriff gegen sie alle angesehen wird.“

New York für Berlin opfern?

Es ist ein Versprechen nach innen und eine Drohung nach außen. Wie glaubwürdig das ist – darüber machen sich Experten nicht erst seit Trump Gedanken. Würde ein US-Präsident einen Atomangriff auf Berlin wirklich durch einen nuklearen Gegenangriff vergelten und dafür in Kauf nehmen, dass anschließend New York zerstört würde? Und wenn das Ziel nicht die deutsche Hauptstadt wäre, sondern „nur“ Tallin, die Hauptstadt des kleinen Estlands? Putin ist zuzutrauen, dass er nach einem Sieg über die Ukraine und einer Neuformierung seiner Streitkräfte das Baltikum ins Visier nehmen könnte – etwa unter dem Vorwand, die dort lebende russische Minderheit schützen zu wollen. Würden die USA dann in den alles zerstörenden Dritten Weltkrieg ziehen? Oder wäre die Aufgabe des Baltikums und anschließend Polens, Deutschlands und weiterer westeuropäischer Länder nicht das kleinere Übel aus der Perspektive jenseits des Atlantiks?

Wir alle können Gift darauf nehmen, dass Putin all das schon rauf- unter runtergedacht hat. Doch am Ende bleibt dieser leise Zweifel, dass die militärischen Mechanismen einschließlich ihrer kurzen und immer kürzer werdenden Reaktionsszeiten am Ende doch auf den Gegenschlag hinauslaufen könnten, dass ein Angriff auf einen Natostaat also womöglich Selbstmord wäre, nicht nur für Putin, sondern auch für seine Militärs und deren Familien.

Putin würde die Nato testen

Wenn also ein US-Präsident das Versprechen als hohl, die Drohung als leer entlarvt, dann kann daraus eine dramatische Wendung in den strategischen Überlegungen resultieren. Ist Artikel 5 plötzlich das Papier nicht mehr wert, auf dem er steht, sinkt die Abschreckung auf ein womöglich kalkulierbares Niveau. Wäre ich Putin, würde ich das zum Anlass nehmen, mit anfangs kleinen und dann immer härter werdenden Nadelstichen die Nato zu testen, bis ich mir relativ sicher sein kann, dass ein Angriff für mich selbst keine Gefahr mehr darstellt.

Mit anderen Worten: Ein von Trump geführtes Amerika müsste nicht aus der Nato austreten, was sehr hohe politisch-rechtliche Hürden hätte. Es müsste ihr noch nicht einmal den Geldhahn zudrehen. Es würde genügen, Artikel 5 in einer weiteren Rede komplett zu zerbomben: America first! New York für Berlin opfern? Never. Und schon wäre die Nato de facto tot. Sicher wird Putin alles unternehmen, um Trump auf seine Weise im Wahlkampf zu helfen, etwa durch die manipulative Wirkung seiner Trolle in den sozialen Medien. Und Trump? Der wird das super finden.

Europäischer Schutzschirm

Ich meine, vor diesem Hintergrund ist die Diskussion, ob Europa einen eigenen nuklearen Schutzschirm bräuchte, auf den auch Deutschland in bestimmter Weise Zugriff hätte, keineswegs mehr absurd. Sie ist sogar dringend geboten. Auf die USA ist jedenfalls kein Verlass mehr. Wollen wir wirklich amerikanischen Wählern in Texas oder Alabama unsere Sicherheit anvertrauen, von denen viele nicht einmal wissen, dass es Berlin gibt – geschweige denn, wo es liegt?

Der neue polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat vorgeschlagen, das Angebot des französischen Präsidenten Macron zu einer Europäisierung der französischen Atomwaffen ernst zu nehmen. Recht hat er. Bedenken wir Deutschen aber auch: Selbst Frankreich ist nicht davor gefeit, eines Tages von Rechtspopulisten regiert zu werden. Der Traum Putins, einen tiefen Keil in den von ihm so verhassten freien Westen hineinzutreiben, wird womöglich immer realistischer. Es wäre schön, wenn Berlin jetzt aufwachen würde, bevor dieser Traum unser aller Alptraum wird.

Auf bald.

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