Essen. Lindner gegen Paus: Die Ampelkoalition streitet darüber, wie Kinder aus Armut geholt werden können. Dabei helfen eigentlich nur radikale Lösungen.

„Dreist“, „perfide“, „schäbig“, „unsäglich“. Christian Lindner hat in den vergangenen Tagen einiges einstecken müssen im Streit um die Frage, wie Kinder am besten aus der Armut zu holen sind. Im Ruhrgebiet etwa gilt jede fünfte Familie als arm. In der Schlusslicht-Stadt Gelsenkirchen sind mehr als 40 Prozent der dort lebenden Kinder von Armut betroffen. Armut – das bedeutet, dass kein Geld und manchmal auch kein Bewusstsein für gesunde Ernährung da ist, wenig Raum, um in Ruhe Hausaufgaben machen zu können, keine Mittel für den Fußballverein, für Musikunterricht, kein Geld, um einem Freund ein Geschenk zu kaufen, der zum Kindergeburtstag eingeladen hat.

Trotzdem hat der Bundesfinanzminister und FDP-Chef nun laut darüber nachgedacht, ob den betroffenen Familien wirklich mit mehr Geld geholfen wäre, wie es die Grünen mit der sogenannten Kindergrundsicherung erreichen wollen. Er hat auf den Import von Kinderarmut durch ein hohes Maß an Zuwanderung hingewiesen und will darum nach eigener Aussage lieber in die „Sprachförderung, Integration sowie die Beschäftigungsfähigkeit der Eltern“ investieren.

Rohes Fleisch für Ulrich Schneider

Der Aufschrei war und ist gewaltig. Manche tun so, als sei Lindner ein Kinderfeind, ein rechts außen stehender dazu, weil er angeblich Migrantenkinder gegen „bio-deutsche“ Kinder ausspielen wolle. Dabei, so wird Lindner belehrt, sei Armut immer gleich schlimm, unabhängig von der Frage, ob es einen Migrationshintergrund gebe oder nicht. Als ob das jemand, von der AfD einmal abgesehen, bestritten hätte! Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, der im Angesicht von Politikern des aus seiner Sicht falschen Lagers ohnehin immer den Eindruck macht, als habe er gerade rohes Fleisch gegessen, warf Lindner prompt vor, er wolle „Kinder in Armut belassen“.

Herr Schneider, bitte räumen Sie schleunigst wieder alle Tassen in Ihren Schrank!

Christian Lindner hat nämlich erst einmal recht. Das Risiko für Kinderarmut ist in migrantischen Familien deutlich höher als in Familien ohne Migrationshintergrund. Schauen wir noch einmal auf Gelsenkirchen. In der 270.000-Einwohner-Stadt wohnen 10.000 Rumänen und Bulgaren, lupenreine Armutsmigranten, in menschenunwürdigen Schrottimmobilien. Hier sind es vor allem Sprachbarrieren und Bildungsdefizite, die jede Teilhabe an einem relativen Wohlstand verhindern. Hier wird Armut geradezu „vererbt“. Eine nachhaltige Lösung kann hier nur bedeuten: mehr Bildung, etwa durch mehr Kitas und besser ausgestattete Schulen.

Mehr Geld allein hilft nicht

Richtig ist zudem, dass einfach nur „mehr Geld“ kein Allheilmittel ist. Was passiert, wenn auf dem Konto armer Familien ein paar Euro mehr landen? Kommen die immer und in allen Fällen direkt den Kindern zugute? Das kann keiner kontrollieren.

Christian Lindner liegt aber auch falsch. Er tut so, als könne man nur Geld für die Kindergrundsicherung ausgeben oder für bessere Bildung. Wenn man aber den Betrag, den man für zusätzliche familienpolitische Leistungen ausgeben will, deckelt, dann ist das kein Naturgesetz, sondern eine politische Entscheidung – so wie es auch eine politische (und absolut richtige!) Entscheidung war, 100 Milliarden Euro für ein Sondervermögen der Bundeswehr bereitzustellen.

Vielleicht muss man also beides tun: die teure Schmerzsalbe auftragen und zugleich die Ursachen für die Schmerzen bekämpfen, was freilich lange dauern und noch mehr Geld kosten wird.

Was sind uns unsere Kinder wert?

Die Kernfrage ist doch: Was sind uns unsere Kinder wert? Was ist uns unsere Zukunft wert? Denn wenn man es mal volkswirtschaftlich betrachtet und nicht nur sozialpolitisch, dann sind Kinder der einzige Rohstoff, den wir haben. Oder etwas weniger kühl ausgedrückt: Die Kinder von heute sind die Fachkräfte von morgen. Wenn wir Kindern Bildungschancen verweigern, dann ist das nicht nur schade für die Kinder, sondern stellt für die Gesellschaft insgesamt eine Katastrophe dar. Lindner selbst spricht sogar von einem „Skandal“, dass die Herkunft eines Kindes noch immer darüber entscheidet, was aus diesem Kind einmal wird. Er klingt da fast wie ein Sozialdemokrat, wenn er Chancengerechtigkeit einfordert.

Gut gebrüllt, Löwe! Aber wo sind sie, die Milliarden für die Brennpunktschulen, die wir überall im Ruhrgebiet haben und die die Ampel, dem Koalitionsvertrag zufolge, finanziell besser ausstatten will? In Duisburg fehlen aktuell rund 250 Lehrerinnen und Lehrer. In manchen Schulen gibt es keine Schulleitung. In vielen Schulklassen tummeln sich bis zu 30 Kinder, von denen keines mehr auch nur annähernd individuell betreut werden kann. Auf manchen Schulhöfen wird nahezu jede Sprache gesprochen, nur kein Deutsch.

Beruhigungspillen im Döner

Um es klar zu sagen: In solchen Schulen spiegelt sich das totale Integrationsversagen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte wider. Da müssen wir nicht nur auf zugewanderte Rumänen und Bulgaren schauen, auf die Flüchtlinge aus Syrien, von denen uns einige ganz besondere Probleme machen, sowie aus der Ukraine, die von Russland fortwährend terrorisiert wird. Schauen wir ruhig auch auf die türkische Community.

Hier ist die x-te Generation in Deutschland geboren. Doch die deutsche Kultur, die deutsche Sprache – all das hat dort in weiten Teilen keinen Wert. Finden Wahlen in der Türkei statt, erreicht ein Erdogan 75 Prozent Zustimmung der Wählerinnen und Wähler im Ruhrgebiet mit türkischem Pass. Da muss man in seinem Döner schon eine Menge Beruhigungspillen untermischen, um von multikultimäßiger Diversität in unseren Stadtteilen zu schwärmen. Wenn Grundschullehrer ihren Schülern erst einmal Deutsch beibringen müssen, dann darf man annehmen, dass aus diesen Kindern keine Einser-Kandidaten mehr werden. Diese Kinder schleppen ihre vorschulischen Bildungsdefizite ihre gesamte Bildungs- und Berufskarriere mit sich herum.

Eine Kita-Pflicht einführen?

Wir brauchen neben mehr Lehrkräften in den Schulen daher auch sehr viel mehr Erzieherinnen und Erzieher. Ich bin sogar der Meinung, dass wir über eine allgemeine Kita- oder Vorschul-Pflicht nachdenken sollten, um Kinder gesichert optimal auf die Schule vorzubereiten. Das alles spricht für sich jedoch nicht gegen eine Kindergrundsicherung, insbesondere nicht, wenn es wesentlich auch darum geht, Leistungen zusammenzufassen und komplizierte, bürokratische Verfahren zu vereinfachen.

Viele arme Familien wissen nämlich gar nicht, dass sie Anspruch auf bestimmte Leistungen haben. Beispiel: Leistungen für Bildung und Teilhabe. Da kann es Geld geben für Klassenfahrten oder für die Mitgliedschaft im Sportverein. Die Stadt Gelsenkirchen schickt ihre Mitarbeiter zu Elternabenden, in die Kitas; die öffentlich Bediensteten tummeln sich in den sozialen Netzwerken und machen dort aufmerksam auf die Leistungen. Motto: Wenn die Eltern nicht zu uns kommen, kommen wir zu ihnen. Ein guter Ansatz, aber längst nicht die Lösung.

Thema im ARD-Presseclub

Werden sich FDP und Grüne also zusammenraufen, hier vor allem die Gegenspieler Christian Lindner und Bundesfamilienministerin Lisa Paus? Werden sie vielleicht nicht nur die Kindergrundsicherung auf den Weg bringen, sondern auch über nachhaltigere Lösungen sprechen? Der offen ausgetragene Machtkampf hat der Koalition jedenfalls weiteren massiven Schaden zugefügt. Wenn nun sogar Bundeskanzler Olaf Scholz eine Art „Machtwort“ spricht (im Zusammenhang mit dem Kanzler kann man den Begriff unmöglich ohne An- und Abführungszeichen verwenden) und eine kurzfristige Lösung ankündigt, dann ist es gewissermaßen fünf vor zwölf.

Auf bald – zum Beispiel an diesem Sonntag, 12.03 Uhr, im ARD-Presseclub. Da diskutiere ich mit Kolleginnen und Kollegen von der „Zeit“, der „Wirtschaftswoche“ und vom „Tagesspiegel“ über das Thema „Arm und chancenlos: Wie sichern wir die Zukunft der Kinder?“ Anschließend ist die Sendung in der ARD-Mediathek abrufbar. Ich würde mich freuen, wenn Sie einschalten.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.