Essen. Fehlende Tassen im Schrank – das gibt es immer wieder. Aber Lügner, die die Gesellschaft zersetzen, gehören gestoppt. Wo Pluralismus endet ...
Ich behaupte mal, jedem Menschen, auch mir selbst natürlich, fehlen ein paar Tassen im Schrank – manchen ein paar mehr, manchen ein paar weniger. Besonders spannend sind für einen Journalisten natürlich die, deren Schrank offensichtlich nahezu leer ist. Auch in der nunmehr 75. Klartext-Kolumne, die zudem im 75. Jahr des WAZ-Bestehens erscheint, soll es um diese – spannenden – Menschen gehen und, en passant, auch um das Selbstverständnis der WAZ als Wegweiserin im Informations- und Meinungsdschungel.
Ein „schönes“ Beispiel für einen solchen Dschungel ist der gesellschaftliche Dauerstreit um den Klimawandel. Herausgegriffen seien dazu zwei Ereignisse der vergangenen Tage: ein Fernseh-Ereignis im ZDF und eine schnöde Straßendemo in Essen. Fangen wir mit der Demo an.
Illegale Demo in Essen
Es ist Donnerstagabend, die Sonne strahlt pünktlich zum meteorologischen Sommeranfang vom Himmel, doch dafür haben die Autofahrer, die in der Innenstadt im Stau stehen, verständlicherweise keinen Sinn – und die Aktivisten der „Letzten Generation“, die sich weniger ums Wetter als mehr ums Klima scheren, auch nicht. Einige besonders Eilige meinen, sie könnten die Demonstranten von der Straße hupen, was den Tassen-im-Schrank-Index der Hupenden in den Keller rauschen lässt. Letzterer scheint aber auch bei den Aktivisten nicht allzu hoch zu sein. Denn so legitim Proteste gegen die für viele enttäuschend lahme Klimapolitik auch sein mögen – diese Demonstration ist unangekündigt, sie ist illegal und in einem demokratischen Rechtsstaat damit automatisch auch illegitim.
Zu den Demonstranten gehört Martin Arnold aus Essen. Der 76-Jährige, ein evangelischer Geistlicher, war nach eigenen Angaben früher als Pfarrer am Berufskolleg Essen-West tätig. Er protestiere in erster Linie gegen die jüngsten Razzien, sagt er dem WAZ-Lokalreporter. Zur Erinnerung: Bei den bundesweiten Hausdurchsuchungen standen Polizisten mit schusssicheren Westen und Waffen plötzlich vor den Betten von Klima-Klebern, als handele es sich bei denen um gefährliche Terroristen. Ein Treiber dieses unverhältnismäßigen Vorgehens war Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, ein Dauerkandidat im Rennen um den niedrigsten Tassen-im-Schrank- (oder Bierkrüge-im-Regal-) Index. Arnold liegt richtig, wenn er das anprangert.
Der Pfarrer liegt falsch
Falsch liegt Arnold indes, wenn er ein handgeschriebenes Protest-Plakat vor sich herträgt, auf dem steht: „Wer für gute Ziele zivilen Ungehorsam leistet und die Strafe auf sich nimmt wie die letzte Generation, ist nicht kriminell.“ Doch, doch, Herr Arnold, doch, doch. Diese Art der Gutmenschen-Arroganz ist schlicht inakzeptabel, lieber Herr Pfarrer. Nehmen Sie mit ihren jungen Schützlingen die Mühe auf sich und sorgen sie für andere demokratische Mehrheiten auf legalem Weg, dann sehen wir weiter.
Fatalerweise geht die Stimmung in Deutschland gerade in eine ganz andere Richtung. Auf 18 Prozent Zustimmung kommt die AfD derzeit im ARD-Deutschlandtrend. Das ist Rekord. 18 Prozent! Mehr erreicht die Kanzlerpartei SPD derzeit auch nicht. Was die AfD zum Thema Klimawandel zu sagen hat, ließ sich vor gut einer Woche bei Markus Lanz beobachten. Steffen Kotré, der energiepolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, nutzte die große Bühne für Anti-Klimapolitik-Propaganda. Es gebe eine „Hysterie“ rund um das Thema Klima, sagte er: „Wenn ich das Fernsehen anmache, dann habe ich immer das Gefühl, morgen fällt uns der Himmel auf den Kopf und es ist ganz schlimm und wir müssen sofort auf den nächsten Planeten.“
Wie die AfD lügt
Und das war noch nicht alles. „Wie hoch ist der Einfluss von CO2?“, fragte der Rechtspopulist scheinheilig. Ihm sei das „nicht klar“. Das gehe auch aus den wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht hervor. Eine glatte Lüge! Die Frage des menschlichen Einflusses auf das Klima hat die Wissenschaft längst eindeutig beantwortet. Mir stellte sich an der Stelle einmal mehr die Frage, ob man jemanden wie Kotré in eine solche Sendung einladen darf. Stiftet das nicht mehr Verwirrung als Aufklärung? Oder muss man ihn gar einladen, weil man eine 18-Prozent-Partei nicht rechts liegen lassen kann?
Nach meiner Überzeugung ist es nicht die Aufgabe von Journalisten, alle Positionen zu einem Thema, und seien einige davon auch noch so absurd, gleichberechtigt nebeneinander aufzuführen. Zu den vornehmsten Aufgaben eines unabhängigen Journalismus gehört doch immer auch dies: einzuordnen. Je mehr Desinformationen kursieren, um so wichtiger wird diese Einordnung, die nach bewährten journalistischen Regeln erfolgt.
Falsche Ausgewogenheit
Meinungspluralismus ist ein hohes Gut. Unterschiedliche, sich widerstreitende Perspektiven fördern die Meinungsbildung. Wahrheitspluralismus dagegen stiftet Verwirrung, gefährdet den demokratischen Diskurs und destabilisiert die Gesellschaft. „False balance“, falsche Ausgewogenheit, ist kein Beleg für funktionalen Qualitätsjournalismus, sondern eher für dessen Abwesenheit. In der Wissenschaftsberichterstattung etwa wird dann nicht mehr unterschieden zwischen Konsens- und Minderheitenpositionen, zwischen echter Forschungsexpertise und ideologischer Scharlatanerie.
Gesicherte Fakten produzieren Gewissheiten, die uns helfen, durchs Leben zu kommen und die immer herausfordernderen Krisen zu bewältigen. Klima-Aktivisten, die zu einer nicht genehmigten Demonstration zusammenkommen und den Verkehr behindern, handeln illegal. Punkt. Und wer behauptet, den Klimawandel gebe es gar nicht, der lügt. Punkt. Das sind Fakten, keine Meinungen.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
In diesem Sinne: Auf bald.