Essen. Die Ziele der Klimaaktivisten sind aller Ehren wert, doch der Zweck heiligt noch lange nicht die Mittel. Wie weit geht die Radikalisierung noch?
Alles ist erlaubt, was nicht gesetzlich verboten ist, und was gesetzlich verboten ist, ist nicht erlaubt. Es könnte so einfach sein. Wem die geltenden Gesetze nicht passen, der kann mit legalen politischen Mitteln versuchen, sich in einem demokratischen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik entsprechende Mehrheiten zu organisieren, die am Ende zu veränderten Gesetzen führen – und zwar als Folge von Wahlen, die allgemein, unmittelbar, frei, geheim und gleich sind. Wie gesagt: Es könnte so einfach sein.
Doch schon immer gab es Menschen, die halten sich nicht für „gleich“. Die halten sich für schlauer als die Mehrheit der Bevölkerung und als die demokratisch legitimierten staatlichen Institutionen. Diese Menschen meinen, Probleme zu erkennen, die das große dumme Volk nicht erkennt. Sie nehmen sich darum das Recht heraus, tatsächliche oder vermeintliche gesellschaftliche Missstände durch das Brechen von Gesetzen zu verändern. Sie nennen es verharmlosend „zivilen Ungehorsam“. Sie sagen, sie täten es für Dich und mich und für uns alle, obwohl sie weder Dich noch mich noch uns alle gefragt haben. Zu sagen, diese Leute haben nicht alle Tassen im Schrank, wäre eine Verharmlosung. Denn in Wahrheit sind sie arrogante Anti-Demokraten, Gesetzesbrecher, Kriminelle.
Erst wirken sie ganz sympathisch
Dass manche von ihnen erst einmal ganz sympathisch rüberkommen, macht es nicht besser, sondern schlimmer. Teile der Gesellschaft fallen dann auf sie herein; sie erhalten moralische Unterstützung, werden gelobt und angefeuert, statt dass man ihnen sofort klar die Grenzen aufzeigt. Aktuell beschäftigen uns die Vertreter der „Letzten Generation“, wie sie sich melodramatisch selbst bezeichnen. Man kann sie mögen, wie sie da in den Talkshows sitzen und sagen, dass ihnen der Klimawandel Angst macht, dass die Regierungen nicht genug tun, dass die Menschheit auf den Abgrund, auf das Ende zusteuert. Sie fordern für sich eine Zukunft ein, die in Gefahr ist. Wenn ich vor dem Fernseher sitze und mir das anhöre, ganz ehrlich, dann drücke ich, metaphorisch gesprochen, permanent auf den „Gefällt-mir-Knopf“.
Aber dann kommt die Frage aller Fragen: Was soll, kann, muss und darf man machen, um den Klimawandel zu stoppen? Welche Formen des öffentlichen Protestes sind erlaubt? Bis zu welchem Grad kann man dabei auch gegen Gesetze verstoßen – denn das tut man bereits, wenn man sich einfach auf die Straße setzt, festklebt und den Verkehr blockiert. Wer Kunstwerke besudelt, der geht noch einen Schritt weiter, der zerstört fremdes Eigentum. Und wer Luft aus Autoreifen lässt, wie jetzt wieder in Essen geschehen, der nimmt sogar in Kauf, dass Menschen verletzt werden, wenn sie das nicht rechtzeitig bemerken.
Heiligt der Zweck die Mittel?
Was ist legitimer Protest im Angesicht des edlen Ziels? Heiligt der „Zweck aller Zwecke“, die Menschheit zu retten, nicht nahezu jedes Mittel? Wäre es in der Logik dann nicht auch erlaubt, ja verantwortungsethisch geboten, durch Anschläge auf Personen ein paar Menschen zu opfern, um alle anderen zu retten? Schon werden Warnungen laut, aus Teilen der „Letzten Generation“ könnten grüne Terroristen werden. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, geübt darin, in jede feurige Debatte noch einmal ordentlich Öl zu kippen, warnte bereits schlagzeilenträchtig vor einer „Klima-RAF“. Das führt, Stand heute, sicherlich zu weit.
Wie so oft, hilft ein Blick ins Grundgesetz. Nicht selten beziehen sich jene, die einen wie auch immer gearteten zivilen Ungehorsam für legitim halten, auf das Widerstandsrecht in Artikel 20 Absatz 4. Dort steht: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung [die freiheitlich-demokratische Grundordnung] zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Der springende Punkt steckt im letzten Nebensatz: Solange das Grundgesetz besteht, ist noch „andere Abhilfe möglich“. Jeder Bürger darf seine Meinung frei äußern, hat ein Demonstrationsrecht, kann wählen gehen; er kann, wenn er will, sich sogar an der Gründung einer politischen Partei beteiligen, wenn er den bestehenden Parteien nicht vertraut.
Kein Unterschied zwischen legal und legitim
Rechtlich relevant werden könnte das Widerstandsrecht also nur dann, wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung (vorübergehend) beseitigt wurde. So lange sie besteht, kann etwas, das illegal ist, nicht legitim sein. Wer, bitte, sollte da auch Ausnahmen definieren außerhalb der demokratisch-legitimierten (!) Institutionen? Die 20-jährige Carla Rochel etwa, die neulich bei Markus Lanz saß, nach verbüßter Gefängnisstrafe, weil sie sich gerne mit Sekundenkleber auf Straßen festpappt, statt sich etwa parteipolitisch zu engagieren? Parteipolitik, sagte sie, dauere ihr zu lange. Der Klimawandel müsse schneller gestoppt werden. Jetzt.
Gestoppt werden müssen vor allem junge Leute wie Carla Rochel. Damit meine ich nicht ihr grundsätzliches Engagement für die gute Sache. Damit meine ich ihren radikalen Weg in eine kriminelle Karriere, die niemandem nutzt, schon gar nicht der Klimabewegung. Ob Gesetzesverschärfungen dabei helfen, Rochel und Co. wieder auf den legalen und damit einzig legitimen Pfad zu bringen, muss leider bezweifelt werden. Verschärfungen des Strafrechts, wie sie die Unionsparteien im Bundestag fordern, mögen einen symbolischen Wert haben, um die Entschlossenheit des demokratischen Rechtsstaates zu demonstrieren – mehr nicht.
Auf bald.
Anmerkung: In einer früheren Version der Kolumne wurde darauf hingewiesen, dass Klima-Aktivisten in Essen Reifen zerstochen hätten. Dies fußte auf entsprechende Informationen der Polizei. Inzwischen hat sich die Polizei korrigiert. Aus den Reifen wurde Luft gelassen; sie wurden aber nicht zerstochen.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
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