Ruhrgebiet. Es sind Weihnachtsgeschenke, die ein ganzes Leben wirken: Seit vielen Jahren helfen WAZ-Leserschaft und Kindernothilfe Kindern in aller Welt.
Alles begann mit Russland. Aber um Politik ist es in all’ der Zeit nie gegangen, nicht bei dieser besonderen Zusammenarbeit. Es ging um die Kinder: In 17 Jahren hat die WAZ gemeinsam mit der Kindernothilfe die Jüngsten in aller Welt besucht, die es schwer haben mit ihrem Leben. In Afrika, Asien, Lateinamerika, aber auch in Europa. Reporterinnen und Reporter haben immer wieder im Advent ihre Geschichten erzählt: von Armut, Gewalt, Missbrauch. Aber auch von Fürsorge, Schutz, Hoffnung. Sie, liebe Leserinnen und Leser, Sie haben gespendet und damit ein bisschen die Welt verändert.
Dreieinhalb Millionen Euro sind bei diesen Weihnachtsspenden-Aktionen seit 2006 zusammengekommen. Die Kindernothilfe, die in Duisburg sitzt – und damit im Ruhrgebiet, wie die WAZ – hat mit dem Geld Schutzhäuser gebaut, Kindergärten, Mädchen-Wohnheime. Sie hat Selbsthilfegruppen unterstützt, Familien gestärkt, Kinder in die Schule geschickt: Flüchtlingskinder, Straßenkinder, vergewaltigte Mädchen, verprügelte Jungen. Es müssen wohl Tausende gewesen sein. Drei von ihnen treffen wir hier wieder.
FADI, Libanon 2014 und 2015
KfarNabrak, Libanon. Es war nicht leicht auszuhalten, dieses Leben im Libanon. Der traurige Vater ohne Job, die kleine Schwester tot, kein Geld, keine Hoffnung, und das „Haus“ nur ein dreckiges, stinkendes Kellerloch. Aber noch schwerer auszuhalten war das Leben davor: Da war der Krieg zu Hause in Syrien, die Bombe, die auf das Auto fiel mit der kleinen Schwester darin. Die menschlichen Körperteile, die jemand an den Schulzaun gehängt hatte. Fadi war elf, als er davon erzählte in einem Schutzzentrum der Kindernothilfe im Libanon, als er uns das Kellerloch zeigte und seine Bilder: Zeichnungen von seiner Seele. Fadi malte, um sich zu beruhigen, um nicht schreien zu müssen und andere verhauen; er galt als aggressives Kind, er wollte die Geschwister beschützen, die ihm geblieben waren.
Die Familie gehörte zu den vielen, die aus Syrien fliehen mussten, aber auch dafür eigentlich kein Geld hatten. Zu jenen, die ihre Kinder an die Hand nahmen und es gerade über die nahe Grenze schafften. In das nächste arme und auch nur bedingt friedliche Land, das bald in die Knie ging unter Millionen Flüchtlingen, halb so vielen Menschen fast wie vorher schon im Libanon wohnten. Fadi, der kleine Junge mit der widerspenstigen Haartolle, war sieben, als er im Chouf-Gebirge ankam, er hatte noch keine Schule besucht, und die libanesische hatte keinen Platz für ihn.
Sein ganzer Stolz: die Schuluniform
2015, beim zweiten WAZ-Besuch vor Ort, hatte die Kindernothilfe es geschafft: Fadi, inzwischen zwölf, war ein Schulkind, und glücklicher kann ein Junge nicht sein. Am einzigen Haken in der neuen „Wohnung“ der Familie, der auch nur ein rostiger Nagel war an der Wand einer nicht fertig gebauten Garage, hing ein blauer Kittel: seine Schuluniform. Was war Fadi stolz!
„Aus dem stillen und zurückhaltenden Kind“, schreibt Projektbetreuer Tarek Dib heute, „wurde ein mutiger, zuversichtlicher Junge“, von Schlägen keine Rede mehr. Fadi fand Freunde, lernte Lesen und Schreiben und vor allem: an sich selbst zu glauben. Er selbst sagt, die Schulzeit war „die beste Zeit“ in seinem Leben, „denn dort konnte ich zeigen, was in mir steckt“. Er habe, sagt Dib, „eine unglaubliche Stärke gezeigt“, habe hart gearbeitet, um seine Fähigkeiten zu verbessern. Die Kindernothilfe, die vielen Spenden der WAZ-Leser haben ihm dabei geholfen. 446.000 Euro kamen bei zwei Weihnachtsbesuchen zusammen.
„Ich hatte gehofft, ein besseres Leben zu haben“
Und jetzt: Es ist immer noch nicht einfach. Fadi ist inzwischen 19 Jahre alt, die Schule ist vorbei – aber der Krieg noch immer nicht. Der junge Mann, sagt Tarek Dib, werde „hart auf die Probe gestellt“: Seine Familie lebt, wie fast alle syrischen Geflüchteten im Nachbarland, in bitterer Armut, der Bruder sucht einen Job, auch Fadi kämpft. So gerne würde er studieren, einen Abschluss machen, sein größtes Ziel ist es, „meinen Eltern zu helfen“. Gerade sucht er wieder Arbeit, kümmert sich auch um die Großeltern. „Ich hatte gehofft, ein besseres Leben zu haben“, er hofft weiter, bedankt sich nochmals von Herzen für die Unterstützung. Und einer wie Fadi gibt nicht auf, niemals. „Sein Engagement und seine Entschlossenheit“, sagt Tarek Dib, „lassen hoffen, dass er die Herausforderungen meistern wird, die auf seinem Weg liegen.“
KAIDO, Äthiopien 2017
Dire Dawa, Äthiopien. „Das Leben ist gut“, hat Kaido gesagt – das war, als sie fast noch ein (Straßen-)Kind war, und noch einmal, als gerade Corona war auch in Afrika. Und nicht nur deshalb klingt der Satz so unglaublich aus diesem Mund, der immer lächelt. Aber so ist Kaido: die mit zehn zum ersten Mal in die Schule ging. Die bis dahin auf der Straße geschlafen hatte wie ein wilder Hund: ein Leben im Dreck. Kaido, die wir kennen lernten 2017 in Dire Dawa, Äthiopien, damals war sie 13. Die Geschichte dieses Mädchens ist so traurig – aber Kaido erzählt uns strahlend vom Glück.
Beim ersten Besuch war es das Glück, lernen zu dürfen. Das Glück, ein Zuhause zu haben, auch wenn es nur eine fensterlose Hütte war, ohne Möbel, ohne Wasser, aber mit einem Dach. Das Glück, dass die Mama ein paar Birr verdiente auf dem Markt und ihren Kindern endlich mehr geben konnte als die Abfälle von anderen. Die Kindernothilfe und ihre Partner hatten dieses Kind aus der Gosse gefischt, schmutzig, mit entzündeter Kopfhaut und ohne Hoffnung.
Managerin oder Modedesignerin?
Und jetzt ist sie schon 18. Eine junge Frau, die trotz langer Lockdowns ihren Schulabschluss gemacht hat und und immer noch nicht aufhören möchte mit dem Lernen: Kaido will bald studieren, und wer studieren will, muss gut sein, sehr gut, nur dann kostet die Universität in Äthiopien kein Geld. Deshalb strengt sie sich jetzt noch mehr an, Zweitbeste war sie schon immer, Beste will sie jetzt sein. Und dann? Managerin werden. Oder doch Modedesignerin. Kaido hat immer schon so gern gemalt, schöne Frauen, wie sie jetzt selbst eine ist, in schönen Kleidern, die sie selbst nicht besitzt. Sie hat die Bilder wieder mitgebracht, presst die Blätter fest an ihre Brust.
Die Kindernothilfe ist weiter an ihrer Seite, hat für so viele Straßenkinder und solche, die zum Arbeiten verkauft wurden, eine Perspektive gefunden, auch mit den Spenden der WAZ-Leser. Kaido macht die Zukunft trotzdem etwas nervös. Aber dieses „neue Leben“, das ist ihr klar: Auch das wird gut werden.
JESSICA, Guatemala 2018
El Tejar, Guatemala. Sie brauchten dieses „Haus, wo Kinder Frieden finden“ in El Tejar: weil es so viel Gewalt gibt in Guatemala, besonders gegen die Kleinsten, so viel Drogenkriminalität; schon die Jüngsten fangen damit an und seit der Corona-Krise noch mehr. An Jessica, der Sechsjährigen, konnte man diese Geschichten beispielhaft erzählen: der Bruder süchtig, der Vater soff, die Mutter in ihrer Verzweiflung reagierte manchmal allzu rabiat. Jessica war dieses Kind, für das sie beim Kindernothilfe-Partner noch Hoffnung hatten. Heute müssen sie lachen, wenn sie die alten Fotos sehen: wie beim Fußballspielen der Staub aufwirbelte, dass man gar nicht mehr sah, ob Jessica das Tor getroffen hatte!
Kinder ziehen vor Gericht: „Wir wollen nur spielen!“
Heute ist da ein vernünftiger Fußballplatz, wo 2018 nur karges Gestrüpp war. Und eben dieses Haus, in das Jessica kommt an jedem Tag der Woche. Aber erst nach der Schule! Sie ist jetzt elf, trägt stolz ihre Schuluniform, mag am liebsten Mathe und könnte im Schutzhaus, das sie erbauten mit dem Spendengeld der WAZ-Aktion, einfach nur spielen. Aber das reicht den Mädchen nicht: Neulich schrieben sie genau das auf ein Plakat, „Wir wollen nur spielen“, und zogen damit vor das Gerichtsgebäude in Antigua: Dort lief ein Prozess gegen einen Mann, der ein Mädchen vergewaltigt hatte.
Gegen sowas kämpft Jessica jetzt, mit elf! Und dafür, dass Kinder Zugang zum Internet haben und dass sie nicht einfach verschwinden – es heißt, viele würden verkauft. Die politische Arbeit ist wichtig im neuen Schutzhaus, auch wenn der Chef, Saul Interiano sagt: „Wir wollen vor allem, dass die Kinder wieder glücklich spielen.“ Jessica aber reicht das nicht, da sitzt sie, die widerspenstigen Locken springen ihr ins Gesicht, und sagt, es gehe ihr „besser als den anderen, die zum Beispiel eingesperrt sind“.
Langfristig Leben verändern
Es hat sich viel verändert für Jessica, und dabei fing es gar nicht gut an. Der Vater ging fort, die karge Wellblechhütte der Familie ist abgebrannt, aber die Kindernothilfe war da. Heute hat die Mama Arbeit, alle drei Brüder arbeiten auch, und Jessica, die will Polizistin werden oder Soldatin und „aufpassen, dass die Kinder nicht misshandelt werden“. Oder Bäckerin, das geht auch.
Bei allem bekommt sie Hilfe, eine Ausbildung, Unterstützung beim Lebenslauf; Interiano sagt, sie tun alles, „damit es Mädchen wie Jessica besser geht“. Und den Jungen auch. „Allen folgenden Generationen!“ Jessica, sagt er, soll irgendwann „eine selbstbewusste, starke, freie Person“ sein, den „Teufelskreis aus Alkoholismus und Gewalt durchbrechen. Das Schutzhaus sei „ein wunderschöner Ort“, die Kinder von Guatemala seien so dankbar dafür. „Manchmal kauft man irgendetwas Kurzfristiges, aber hier werden langfristig Leben verändert.“
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Dieser Beitrag erscheint anlässlich des 75. Geburtstages der WAZ. Alle Artikel zum Jubiläum finden Sie unter waz.de/75jahrewaz. Unsere große Jubiläumsausgabe können Sie auch online durchblättern als digitales „Flipbook“: waz.de/jubilaeum.