Bochum. Mit furchtbaren Verletzungen wurde Hennadii Martyniuk ins Bergmannsheil Bochum eingeliefert. Dann wurde er anderen ein Vorbild.
Als Hennadii Martyniuk aus dem Koma aufwacht, ist es Anfang August. Aber es ist kein schöner Tag. „Ich konnte nur den Kopf bewegen, sonst nichts“, erinnert sich der Mann aus der Ukraine. „Ich hatte große Sorgen, furchtbare Angst.“ Er habe einen Autounfall auf der Arbeit gehabt, erfährt der 31-Jährige von einem Arzt, der ein paar Brocken Russisch spricht; vor drei Wochen schon. Nun liege er auf der Verbrennungsstation des Bochumer Bergmannheils. Aber alles werde wieder gut, wenn er eifrig trainiere.
Tatsächlich stehen die Chancen da bestenfalls 50:50, dass Hennadii Martyniuk das Laufen wieder lernt, dass er noch einmal seine Arme bewegen kann. „Wir hätten es damals schon als großen Erfolg gefeiert, wenn wir ihn irgendwann im Rollstuhl hätten heimschicken können“, erinnert sich Dr. Sven Jung, Chefarzt der BG Rehabilitation des Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums. Martyniuk indes verließ vor ein paar Tagen, im November, das Krankenhaus auf den eigenen Beinen, nicht einmal eine Gehhilfe benötigte er! „Ich habe eifrig trainiert“, erklärt er grinsend beim ersten Nachsorgetermin in Bochum. „Damit es die besseren 50 Prozent werden.“
35 Prozent der Körperoberfläche sind nach dem Unfall schwerst verbrannt
Als ihn der Hubschrauber am 12. Juli ins Bergmannsheil bringt, ist der Vater zweier kleiner Söhne näher am Tod als am Leben. 35 Prozent seiner Körperoberfläche sind schwerst verbrannt; darüber hinaus stellen die Ärzte Einblutungen in Herz und Thorax fest, einen Abriss des Beckens von der Wirbelsäule, einen Lungenkollaps. Jede einzelne dieser Verletzungen für sich allein: lebensgefährlich. Dazu kommen multiple Rippenbrüche, diverse Knochenfrakturen, ein Milzriss… Martyniuk wird sofort operiert, seine Frau informiert: Es stünde schlecht um ihren Mann.
Erst zwei Wochen zuvor hatte der Schiffsbau-Ingenieur Arbeit in Deutschland gefunden, bei einer Firma im Kreis Gütersloh, die für Privathaushalte alte Heizöltanks entsorgt. Unmittelbar nach Kriegsbeginn war Martyniuk aus seiner Heimatstadt Mykolajiw im Süden der Ukraine nach Marienfeld bei Gütersloh geflohen. Vor allem die Jüngsten – seine Söhne (2 und 4), die beiden kleinen Nichten – wollte die Familie vor den Bomben in Sicherheit bringen; „als einziger Mann“ habe er die Kinder, Mutter, Schwester, Ehefrau und Schwiegermutter begleitet.
Noch bettlägerig verlegt man ihn in die Reha-Abteilung
An den Unfall selbst hat der 31-Jährige keine Erinnerung, der ganze Tag „fehlt“ ihm. Sie habe ihren Mann morgens wie immer verabschiedet, berichtete Martyniuks Frau später den Ärzten; auch die Kollegen erzählten: „Es war ein Arbeitstag wie jeder andere, eigentlich.“ Nur dass der Ukrainer nach dem letzten Kunden an diesem 12. Juli in den Sprinter stieg, um ihn zur Firma zurückzufahren. Er kam dort nie an, er landete vor einem Baum, war offenbar zuvor mit sehr hoher Geschwindigkeit von der Fahrbahn abgekommen. Der Wagen ging in Flammen auf, die Feuerwehr musste den eingeklemmten Fahrer aus dem Wrack herausschneiden. Seine Arbeitsschuhe, sagt Martyniuk, seien mit den Pedalen verschmolzen gewesen.
Ganze zwei Monate verbringt das Unfallopfer auf der Intensivstation für Brandverletzte, fünfmal wird der Familienvater operiert. Am 12. September wird der junge Ukrainer noch bettlägerig in die stationäre Reha verlegt. Da ist längst klar, dass er neben all den anderen schweren Verletzungen bei dem Unfall auch ein Schädelhirntrauma erlitten hat. Das erklärte, warum er „so ungewöhnlich langsam“ aus dem Koma erwachte, schildert Neurologin Dr. Tatjana Döll – die Ärztin im Bergmannsheil, mit der Hennadii Marytniuk sich ganz sicher am besten versteht: Sie spricht Russisch wie er, übersetzt freundlicherweise auch das Gespräch mit WAZ.
Koordinator der BG Bau stand als eine der ersten an seinem Bett
„Sensationell“ sagt Sven Jung, der Reha-Spezialist, seien danach die Fortschritte des Patienten gewesen. Im „Engelhemdchen“ habe man Martyniuk in in seinem Bett auf die Reha-Station des Bergmannsheils geschoben – „und sechs Wochen später ist der Mann über den Flur spaziert, ohne Gehstützen. Und das bei seinen Verletzungen...“. Der junge Ukrainer selbst erinnert sich an den Moment, als er zum ersten Mal wieder alleine seinen Arm heben konnte, als den „emotionalsten“ von allen.
Sein Arzt betont, dass dieser Fall erneut zeige, was die Einstellung eines Patienten bewirke. Martyniuk kam indes auch „zugute“, dass sein Unfall ein Arbeitsunfall war; er über die BG Bau damit unfallversichert war und gleich in einer Berufsgenossenschaftlichen Klinik betreut wurde, wo Akutversorgung und Reha eng miteinander verzahnt sind.
Dagmar-Maria Dick, Koordinatorin der BG Bau, stand an Martyniuks Bett, kaum, dass er die Intensivstation verlassen hatte. „Wir suchen die Patienten immer so früh wie möglich auf“, erklärt sie, „weil sie ja gerade dann oft sehr unsicher sind, wissen wollen, wie es weitergeht, welche Ansprüche sie haben.“ Sie erklärte dem Ukrainer, dass man sowohl die Akutbehandlung, wie stationäre und ambulante Rehabilitation tragen werde, dass er Verletztengeld erhalte, und man später prüfe, wie die Wiedereingliederung in den alten oder einen neuen Beruf zu gestalten sei, ob er womöglich Anspruch auf eine Rente habe.
„Ein Vorbild für andere Patienten“, sagt Hennadii Martyniuks Arzt
Viele Patienten, sagt Dick, seien dankbar für die Unterstützung. Manchen stört, dass damit auch ein Mehr an Reha einhergehe: Bis zu sechs Stunden aktiver Therapie pro Tag zahlt die Berufsgenossenschaft, manchen sei das zu anstrengend. Nicht jedoch Hennadii Martyniuk: An dessen Motivation gab es keinen Zweifel – seit man ihn das erste Mal am „Bettfahrrad“ rackern sah. „Ich hab richtig Gas gegeben, gekämpft“, erzählt der Kriegsflüchtling – und Sven Jung staunt noch immer darüber, wie sehr; er findet, der Ukrainer sei ein „Vorbild für andere Patienten“.
Noch ist Martyniuk nicht wieder fit, aber daheim bei Frau und Kindern. Im Sitzen, erzählt er strahlend, könne er seine Söhne sogar schon auf den Arm nehmen, „beide zusammen“. Seine Reha setzt er nun ambulant fort, an fünf Tagen in der Woche; nur noch alle vier Wochen muss er zur Nachsorge ins Bochumer Bergmannsheil. Lieber früher als später will er wieder arbeiten. Doch die Lähmungen in seinen Beinen sind noch nicht ganz verschwunden, vor allem aber die dicke „Narbenplatte“ unter seiner linken Achsel schränkt seine Beweglichkeit weiter stark ein – auch wenn er die großflächigen Verbrennungen unter Pullover und Jogginghose verstecken kann.
Vielleicht muss er daher erneut operiert werden. Vielleicht müsse man auch an Kreuzbandriss noch ran, den hatte Jung ganz vergessen zu erwähnen, als er die vielen Verletzungen seines Patienten aufzuzählen versuchte. Hennadii Martyniuk wird auch das überstehen. Der ist schon jetzt überglücklich, überhaupt noch am Leben zu sein. „Spasibo“, sagt er immer wieder, als er sich von seinen Ärzten verabschiedet. Man muss kein Russisch können, um zu verstehen, dass das „Danke“ heißt.
>>> INFO: Berufsgenossenschaft
Die neun gewerblichen Berufsgenossenschaften Deutschlands sind Träger der Unfallversicherung der jeweiligen Unternehmen, die zur Mitgliedschaft verpflichtet sind. Sie finanzieren sich aus deren Beiträgen. Die BG Bau ist zuständig für den Bereich der Bauwirtschaft.
Das Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum gilt als älteste Unfallklinik der Welt. Es wurde 1890 eröffnet, zunächst zur Versorgung verunglückter Bergleute.