Dinslaken. Seit gut 50 Jahren gibt es Naturwaldzellen in NRW. Dort findet der Wald zurück zur Wildnis. Ihr Vorbild macht nun auch Schule im normalen Forst.

Als Stadtkind muss man schon genau hinschauen, um den Urwald vor lauter Bäumen zu sehen – aber dann manifestiert sich das wohl spannendste Experiment in deutschen Wäldern: Rechts des Weges ein Forst, dünn und dicht mit seinen Durchschnittsbuchen. Links dagegen, im „Urwald von morgen“, nähern sich einzelne Bäume den Durchmessern, die man aus Parks kennt. Und dort hinten, ein abgebrochener Stamm, vielleicht zehn Meter hoch … Vor allem kann man ihn vom Weg aus sehen, denn es ist ein Missverständnis, dass der Wald zuwuchert, wenn man ihn nur lässt.

Die Bäume dürfen in Würde altern und sterben

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Einfach mal wachsen lassen – das war die Idee vor gut 50 Jahren, als die ersten „Naturwaldzellen“ gegründet wurden. Diese hier in Dinslaken-Lohberg darf sich seit 1978 entfalten. Im Luftbild, selbst bei Google Maps, sieht man es auf den ersten Blick: Das etwa 20 Hektar große Karree der „Krummbeck“ sticht wie Blumenkohl heraus. Die üppigeren Baumkronen fangen mehr Sonnenlicht ab. Darum wird das Unterholz zunächst lichter, der Wald hallenartiger, wenn die Bäume alt werden dürfen.

Ein „einzigartiges Freiluftlabor“ und „wahre Hotspots der Artenvielfalt“, nennt Michael Elmer von Wald und Holz NRW das Experiment. Er führt das Team Waldnaturschutz und uns heute durch die Zelle. Im Kernrevier gibt es noch weitere in Bottrop-Kirchhellen, im Hiesfelder Wald zu Oberhausen und am Herdecker Hengsteysee. 75 Naturwälder sind es mittlerweile in NRW. Zusammen stellen sie weniger als ein Prozent der Waldfläche, aber nach ihrem Vorbild sind 2004 der Nationalpark Eifel und seit 2017 etwa hundert Wildnisentwicklungsgebiete hinzugekommen.

Wege bitte nicht verlassen

Die wichtigste Regel ist hier wie da: Das Holz wird nicht mehr verwertet. Wenn ein Baum stirbt, darf er verrotten. „Nur wenn mal etwas Größeres auf einen Weg zu fallen droht, müssen wir schneiden“, erklärt Elmer. Aber Wege führen selten durch den Naturwald, meist grenzen sie an. Nur in Begleitung des Fachmanns dürfen wir den Wald betreten. Los geht’s.

„Zunderschwamm“ heißen die Pilze an diesem Stamm, sie sind selbst hart wie Holz.
„Zunderschwamm“ heißen die Pilze an diesem Stamm, sie sind selbst hart wie Holz. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Schon stehen wir vor einer Gabelung, nicht des Weges, sondern eines Stammes. Wäre auf der anderen Seite, im Wirtschaftswald, sicher herausgenommen worden, erklärt Elmer. Ein gegabelter Stamm bringt weniger Geld und bricht leichter. Aber er steht auch für mehr genetische Vielfalt. Und Baumreste sind ja durchaus erwünscht. Wie dieser mächtige Stumpf, aus dem Pilze wachsen wie eine Wendeltreppe. „Zunderschwämme“, sagt Elmer, „weil sie so gut brennen.“

„Ich würde mich wundern, wenn der Specht dort noch keine Höhle gezimmert hätte.“ Elmer sucht und findet. Der Schwarzspecht kann auch einen lebenden Stamm aushöhlen. Der kleinere Buntspecht nutzt lieber das System des „sozialen Wohnungsbaus“. Er bezieht wie viele andere Vögel aufgegebene Höhlen. Aber günstiger Wohnraum ist auch in der Natur Mangelware.

Umarmen Sie mal wieder einen Baum! Die Buche vor Ihrer Haustür ist wahrscheinlich ziemlich glatt. Älter als 40, 50 Jahre wird sie selten. „Und mit 80 wäre sie erst wahlberechtigt“, sagt Elmer. Aber auch die ältesten Buchen, Stiel- und Traubeneichen an der Krummbeck sind gerade mal 200 Jahre alt, die Hainbuchen maximal 140 Jahre. Erst langsam werden sie „grobborkig“, noch finden die Fledermäuse nur wenige Rindenlappen, hinter denen sie sich einnisten könnten. Ein alter Baum ist aus Sicht vieler Tiere etwas ganz anderes als ein junger.

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Die Eiche am Bach wird gerade ausgehöhlt, ein Riss vergrößert sich durch Feuchte, Pilze, Insekten und größere Tiere. Es gibt Käfer, die können nur in solchen Stammhöhlen überleben – und noch spezieller: in bestimmten Feuchtegraden. Um die 1000 Insektenarten sind an alte Eichen gebunden, darunter viele Schmetterlinge und Wildbienen. Der Kardinalrote Schnellkäfer ist so ein Relikt, das vor 2000 Jahren noch die freie Wohnortwahl hatte und heute in NRW nur noch eine Handvoll Flecken vorfindet.

Auch im Forst soll es bald mehr alte Bäume und totes Holz geben

Die Kronen wuchern üppig.
Die Kronen wuchern üppig. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Zählungen haben ergeben, dass die kleinen Naturwaldzellen der Hälfte aller Käferarten in NRW Schutz bieten und zwei Dritteln aller Totholzkäfer. Da liegt ja auch gleich eine Eiche quer. Sie braucht länger als die Buche und über 50 Jahre, um zu zerfallen. „Totholz ist ein superbelebter Lebensraum“, sagt Elmer. Die Lehre daraus ist das „Projekt Xylobius“: Einzelne Bäume und Baumgruppen sollen auch im Wirtschaftswald altern und sterben dürfen. Mehrere 10.000 Bäume sind bereits mit weißen Schlängellinien markiert – Mini-Naturwaldzellen allüberall.

Ohne menschlichen Einfluss entwickelt sich der Wald natürlich nicht. Kommt er mit Klimawandel und Dürre besser klar, wenn man ihn in Ruhe lässt oder sollte man nachhelfen? Vom Vergleich mit den Naturwäldern hat man sich Antworten erhofft, sagt Elmer. Doch sie unterscheiden sich wohl noch nicht deutlich genug vom Forst.

Es wird weiter gejagt

Auch das Wild wird weiterhin bejagt, wenn auch weniger intensiv. Wildschweine, Rehe, Hirsche, Hasen, alles da. Und ja, der Wolf. Aber nur vereinzelt. „Ohne Jagd würde die Wilddichte zumindest in den ersten Jahren stark ansteigen“, glaubt Elmer – und damit der Verbiss, junge Bäume kämen kaum nach.

Die Autos pusten zudem Stickstoff in den Wald. Man könnte meinen, das sei guter Dünger, doch die Bäume fanden vor allem in den letzten vier Jahren nicht genug Wasser, um ihn zu nutzen. Die Böden werden saurer. Ein junger Baum könnte sich daran gewöhnen, sagt Elmer. „Aber eine 200-jährige Eiche bekommt so den Boden unter den Wurzeln weggezogen.“