Grefrath. Früher wuchs am Niederrhein ein blaues Meer aus Flachspflanzen. Das Freilichtmuseum Grefrath zeigt den Weg vom Flachs bis zum Leinen auf.
Esel Jürgen liegt entspannt auf seiner Wiese, nichts kann ihn aus der Ruhe bringen. Auch keine neugierigen Besucher, die an ihm vorbei und bis zum Acker nebenan laufen. Wobei der Begriff Acker etwas irreführend ist, wie Kevin Gröwig zugeben muss: „Ein Bauer würde wahrscheinlich darüber lachen, für ihn wäre das hier nur ein Beet.“ Doch bei dem kleinformatigen Feld auf dem Gelände des Niederrheinischen Freilichtmuseums in Grefrath geht es nicht um große Erträge, sondern um das einzelne Produkt. Und das ist in diesem Falle der Flachs.
Gröwig ist stellvertretender Museumsleiter und hat die Dauerausstellung rund um das Thema Flachs konzipiert. Er kennt sich also aus mit der Pflanze, bei der die Zahl 100 eine ganz besondere Rolle spielt. „Die Saat wird rund um den 100. Tag in den Boden gebracht“, erklärt er. „Das ist ungefähr Mitte April.“ Nach 100 Sonnenstunden sprießen die ersten Pflänzchen, noch einmal 100 Tage wird der Flachs geerntet. Lustiger Fakt am Rande: „Früher gab es am Niederrhein regelrecht ein blaues Meer aus Flachspflanzen. Deshalb heißt es auch ‘die Fahrt ins Blaue’, wenn man aufs Land fährt.“
Blaues Meer am Niederrhein
Bis ins 18. Jahrhundert spross jedes Jahr im Sommer das blaue Meer am Niederrhein, dann aber verdrängte die billigere und leichter zu verarbeitende Baumwolle nach und nach den Flachs aus der Textilindustrie. Mitte des 20. Jahrhunderts war der Flachs am Niederrhein verschwunden. Blau leuchtet es daher zur Sommerzeit nur noch in weit entfernten Ländern wie Russland oder Kanada. Oder eben auf dem kleinen Acker neben der Wiese von Esel Jürgen. An ihm geht’s nun vorbei, um zur Flachsdarre zu gelangen. Das „alte Schätzchen“, wie Gröwig das kleine Häuschen nennt, gehört zur Dorenburg, steht aber ziemlich weit entfernt von ihr. Und das hat auch einen bestimmten Grund.
Bevor Gröwig aber den wohl gefährlichsten Arbeitsschritt bei der Flachsverarbeitung erläutert, geht’s erst einmal rein in die Flachsdarre. Hier ist die Pflanze in ihrer vollen Pracht ausgestellt. „Die Faser geht bis zur Wurzel, deshalb muss man sie auch richtig rausreißen“, erklärt der Experte. Nach dem Raufen kommt das Riffeln, bei dem die Samenkapseln zu Boden fallen. Die sich darin befindenden Leinsamen landen heutzutage vorzugsweise im Müsli. Ansonsten lassen sie sich gut zu Leinöl weiterverarbeiten oder dienen als Aussaat fürs nächste Jahr.
Vom Flachs zum Leinen
Rösten nennt sich der nächste Schritt, bei dem der Flachs kontrolliert im Wasser fault. Klingt etwas ekelig, ist aber durchaus sinnvoll. „Dabei werden Klebstoffe im Inneren der Pflanze gelöst“, sagt Gröwig. So trennen sich die Fasern vom überflüssigen Holz. Anschließend steht der gefährlichste Arbeitsschritt an, das Trocknen des Flachses. „Um den Vorgang zu beschleunigen, wurde der Flachs oft in Backöfen getrocknet. Das war eine Riesenbrandgefahr, deshalb wurden solche Häuser wie die Flachsdarre weit weg vom Haupthaus gebaut.“ Die so getrockneten Bündel noch brechen, schwingen, hecheln – kurz, die wertvollen Fasern endgültig von überflüssigen Holzteilchen befreien – dann endlich ist der Zopf fertig.
Und was sich mit einem solchen Flachszopf alles anstellen lässt, zeigt Silke Heks in einem Häuschen ein paar Meter weiter. Die gelernte Handweberin kennt sich aus mit Leinen, aber auch mit anderen Naturmaterialien. „Alles, was vom Polyesterschaf kommt, ist bei uns verpönt“, sagt sie und lacht. Mit einem Flügelspinnrad oder einer Handspindel verarbeitet sie die Flachsfasern zu Leinengarn, mit dem sie sich dann an ihren Webstuhl setzt.
Garn aus Bananenblättern oder Seetang
„Ich bin ein großer Leinenfan“, sagt Heks. „Aber ich liebe auch neue Materialien.“ Selbst aus Bananenblättern oder Seetang lässt sich „wunderschönes Garn“ herstellen. Denn: „Das ist alles Cellulose.“ Aktuell arbeitet sie mit einem Mischgarn aus Baumwolle und Leinen, das auf einer Spule aufgewickelt ist. Die Spule wiederum liegt in einem Holzschiffchen, das quer durch die längs angeordneten Kettfäden schießt.
Erinnerungen an erste Webversuche in der Kindheit kommen auf. Der große Unterschied aber zum einfachen Kinderwebrahmen: „Mit meinen Pedalen hebe und senke ich die sogenannten Schäfte, sonst wären die Fäden alle auf einer Ebene“, erklärt die Handweberin. Und noch einen Unterschied gibt es. Damit sich die Kettfäden nicht eng zusammenziehen, bleibt der Schussfaden locker in einem Bogen liegen. Dann erst schiebt sie den Faden mit einem Weberblatt an das schon fertige Gewebe.
Zweiter lustiger Fakt des Tages: „Daher kommt auch der Spruch, ‘den Bogen raushaben’.“ Und weil die Weberin ziemlich gut den Bogen raus hat, hat sie schon so manchen Tischläufer oder Schal gewebt. Aus Baumwoll-, Seetang-, Bananenblätter- oder eben auch aus Flachsgarn, dem traditionellen Produkt vom Niederrhein.
>>> Armut auf dem Lande
Der Anbau und die Weiterverarbeitung von Flachs war für viele Menschen am Niederrhein ein harter Nebenerwerb. Was Armut auf dem Lande konkret bedeutet hat, verdeutlicht ein winziges Bauernhäuschen auf dem Gelände des Niederrheinischen Freilichtmuseums. Das Gebäude stammt aus dem Besitz der Familie Miertz aus Wankum.
Das Niederrheinische Freilichtmuseum ist täglich zwischen 10 und 18 Uhr geöffnet. Besucherinnen und Besucher müssen jedoch vorab einen Termin unter 02158/91730 vereinbaren. Weitere Informationen sind im Internet zu finden unter www.kreis-viersen.de/de/inhalt-41/aktuell/