Dortmund.. Vor dreieinhalb Jahren soll eine Mutter in Bergkamen ihren sieben Monate alten Sohn getötet haben. Seit Montag beschäftigt das Drama das Dortmunder Landgericht. Judith O. soll den Jungen so heftig geschüttelt haben, dass sein Kopf hart aufschlug. Erst Stunden später rief sie den Notarzt.
Seinen Geburtstag durfte er nie feiern. Sieben Monate alt war der kleine Nils, als er in einer Kinderklinik an den Folgen eines Schädelbruchs starb. Vor dem Landgericht Dortmund angeklagt ist seit Montag seine Mutter, eine 32-Jährige aus Lünen. Judith O. soll den Jungen so heftig geschüttelt haben, dass sein Kopf gegen einen harten Gegenstand schlug.
Sie schweigt, lässt ihren Verteidiger Rüdiger Deckers in einer schriftlichen Erklärung die Vorwürfe zurückweisen. Von einem Unfall spricht er, das Kind sei in einem unbeobachteten Moment vom Ehebett gerollt und auf den Boden gestürzt. „Er konnte bis dahin nicht einmal krabbeln“, heißt es in der Erklärung.
Dreieinhalb Jahre liegt der Tod von Nils zurück. Zwei Jahre zuvor hatte Judith O. ihren damaligen Lebensgefährten kennengelernt, war mit ihm in Bergkamen zusammengezogen. Unterstützung fand das Paar sicherlich bei den Eltern der Frau, ihr Vater ist niedergelassener Chirurg.
Ihr Freund fuhr zum Angeln
Am 20. Juni 2010 ist Judith O. mit dem Jungen allein in der Wohnung. Es ist ein Sonntag. Ihr Freund ist schon nachts zum Angeln gefahren. Laut Anklage soll sie den Säugling bereits am frühen Morgen durch das Schütteln lebensgefährlich verletzt haben. Mittags habe Nils mehrfach erbrochen, so dass sie ihren Vater ruft. Der Mediziner kommt, seine Tochter erzählt ihm aber nichts von dem Schütteln. Er geht von einer Magen-Darm-Infektion aus. „Kinder erbrechen eben“, soll er gesagt haben.
Die Tortur des Kleinen geht weiter. Als der Vater gegangen ist, legt Judith O. dem Säugling um 15.30 Uhr ein Körnerkissen auf den Bauch. Verbrennungen stellt der Rechtsmediziner später fest, weil sie das Kissen irrtümlich zu sehr aufgeheizt hatte. Um 17.25 Uhr, der Freund ist mittlerweile wieder zu Hause, wird endlich der Notarzt gerufen. Zu spät. Am nächsten Tag stirbt Nils um 13.57 Uhr an Herz-Kreislauf-Versagen.
Körperverletzung mit Todesfolge und unterlassene Hilfeleistung wirft die Anklage Judith O. vor. Das kann nicht sein, sagt sie in der vorgelesenen Erklärung und korrigiert die Anklage: „Ich habe nur die Erklärung, dass der Tod durch einen Unfall am 20. Juni verursacht wurde.“ Nils sei aus dem Ehebett gefallen, als sie ihm gerade einen Milchbrei zubereitete.
Angeklagte spricht von Überforderung
Als es dem Kind mittags schlechter ging, habe sie ihren Vater gerufen, ihm den Sturz aber verheimlicht: „Ich habe das nicht in einen Zusammenhang gebracht.“ Jetzt sei ihr klar, dass es ein verhängnisvoller Fehler war, nichts zu sagen. Das laste heute noch auf ihrem Gewissen. Sie sei überfordert gewesen, habe die Symptome nicht erkannt. Sie weist in der Erklärung noch darauf hin, dass sie früher wegen zu wenig Selbstbewusstsein in psychologischer Behandlung gewesen sei.
Von fehlendem Selbstbewusstsein seiner früheren Freundin spricht auch der 29 Jahre alte Vater des Kindes. Sie habe sich sogar von ihren Eltern zurückgesetzt gefühlt, weil sie nur Verkäuferin gelernt, ihre Geschwister dagegen studiert hätten. „Das stimmt aber nicht“, betont der Freund, „die Eltern waren auch auf sie stolz“.
Nils sei kein Wunschkind gewesen: „Zufall, trotz Pille.“ Er habe sich gefreut, Judith O. sei dagegen nicht gerne schwanger gewesen. Als das Kind da war, hätte sie Hilfen von außen abgelehnt: „Sie ist relativ dickköpfig.“ Streit habe es öfter gegeben. Auch, weil sie ihn erwischte, als er mit einer anderen Frau aus dem Haus per SMS flirtete. „Sie war voll eifersüchtig“, sagt er. Heute ist er mit einer anderen Nachbarin aus dem Haus verheiratet. Wer weiß, was Judith O. sich gedacht hat, als er in der Nacht zum 20. Juni zum Angeln aufbrach?
Der Düsseldorfer Verteidiger Rüdiger Deckers scheut keinen Aufwand, die Verurteilung der Arzttochter abzuwenden. Es gibt ein offenbar von der Verteidigung in Auftrag gegebenes Gutachten eines Physikers aus München zur Frage, ob der Sturz aus dem Bett die Schädelverletzungen verursachen kann. Und zusätzlich zu den vom Gericht bestellten Gutachtern hat der Verteidiger die forensisch erfahrene Psychologin Sabine Nowarra ins Verfahren gebracht. Bei ihr hat die Angeklagte wohl nicht geschwiegen. Fünf Prozesstage hat Schwurgerichtsvorsitzender Wolfgang Meyer terminiert, um den Tod des kleinen Nils aufzuklären.