Ruhrgebiet. Der Kinder Freud’, der Autofahrer Leid: Seit dem Wochenende hat der Winter mit Schnee und Sturm das Ruhrgebiet im Griff. Und es wird noch kälter.
Immer wieder sonntags. Dreimal gab es in diesem Jahr bislang Schnee, und jedes Mal fiel der Winter auf einen Sonntag. Das machte ihn händelbar, begehbar und befahrbar auch. Diesmal aber soll der Winter bleiben, was für die nächsten Wochentage heißt: kein Tauwetter, nicht mal Schneematsch – Eis!
Das Ruhrgebiet geht am Samstagabend ins Bett mit einem seltenen Geräusch: Es ist kein Prasseln, ist kein Klirren, eher ein Knistern. Kleine Kristalle tanzen auf Dächern und gegen Fensterscheiben, der Wind schickt sie in Wellen durch die Nacht: Eisregen. Das Ruhrgebiet erwacht am Sonntag viel zu früh mit einem anderen Geräusch: Schneeschieber kratzen über Eisflächen, wenn überhaupt, weicht der Schnee nicht schaufelweise, sondern in Platten. „Hätte man nicht gedacht, dass wir noch mal Winter kriegen“, sagen müde Nachbarn unter dicken Wollmützen. „Hätte ich auch nicht gebraucht“, rufen sie mit roten Nasen herüber. „Aber für die Kinder freut’s mich.“
Windchill beißt in die Gesichtshaut, Eisregen gefriert zu Zapfen
Die stürzen alsbald hinaus, werfen Schneebälle, bauen Schneemänner, kurven mit Schlitten oder schlittern auf eisblanken Nebenstraßen. Den Windchill, vor dem die Wetter-Experten so warnten, ist zu sehen in ihren Gesichtern: Wangen färben sich rot, der Schnee beißt in die Haut, nasse Haare gefrieren binnen Sekunden. Minus vier Grad, und der Schnee fällt immer noch. „Hohe Wahrscheinlichkeit von starkem Regen“, meldet eine Wetter-App, aber natürlich ist das schon lange kein Regen mehr.
Der letzte aus der Nacht ist festgefroren auf dem Asphalt, er hängt in Zapfen von Dachrinnen und ist in Tropfen starrgeworden. Das ist die andere Seite des Winters, und sie hat mit Spaß nicht viel zu tun. Tückisch, dass der Schnee wie ein Teppich auf dem Eis liegt, manchmal hebt der Ostwind ihn an und zeigt gnädig, wohin man die Füße besser nicht setzen sollte. Also: nirgends hin. „Deutschland im Flockdown“ ist der Spruch des Tages.
In Münster müssen Traktoren die Räumfahrzeuge aus dem Schnee ziehen
Schon am Morgen meldet die Polizei mehr als 200 Unfälle im Land. Viele Autofahrer, obschon gewarnt, ahnten nichts vom Eis unter dem Schnee, aber sie hatten auch keine Chance. Gegen die Flocken kommt auch die gesamte Flotte der Räumfahrzeuge nicht an, die schon seit dem Vorabend unterwegs ist. Im 40 Zentimeter hohen Schnee in Münster fahren sich sogar die schwere Schneeräumer fest, mehrere müssen von Traktoren befreit werden. Die A40 bei Mülheim ist am Mittag eine einspurige Schneestraße. Man könnte jetzt Ketten gebrauchen.
Manche Fahrer aber passen auch die Geschwindigkeit den ungewohnten Straßenverhältnissen nicht an. Von der A45, am Fuß der sauerländischen Berge, berichtet die Polizei schon in der Nacht von Unfällen: Bei Lüdenscheid verliert ein 26-Jähriger auf vereister Fahrbahn, die Kontrolle, nach ersten Ermittlungen fährt er zu schnell. Sein Auto kommt ins Schleudern, überschlägt sich, beide Insassen müssen ins Krankenhaus. Auf der A4 bei Drolshagen überholt ein 36-Jähriger einen Einsatzwagen der Polizei. Im Eisregen kommt auch er ins Schleudern, prallt frontal gegen eine Betonwand, rutscht etwa 100 Meter an ihr entlang. Winterreifen hatte der Wagen zwar schon, aber das Profil war abgefahren.
Motorradfahrer stürzt auf Eisplatten, Räumdienstfahrer findet ihn
Auf der B236 bei Dortmund bleiben mehrere Lkws stecken, auf der A45 und der A1 fallen Bäume unter Wind und Schneelast um und stürzen auf die Fahrbahn. Auf den Autobahnen in den Regierungsbezirken Münster und Detmold ordneten die Behörden ein Fahrverbot für Lastwagen ab 7,5 Tonnen an. Auf der A1 im Dortmunder Südosten verunglückt am frühen Sonntagmorgen bei starkem Schneefall ein Motorradfahrer aus Heinsberg. Laut Polizei fuhr der 45-Jährige zu schnell. Er stürzt auf Eisplatten, verletzt sich schwer. Eher zufällig entdeckt der Fahrer eines Streufahrzeugs der Autobahnmeisterei Hagen Mann, der auf dem Seitenstreifen liegt und leistet erste Hilfe.
Umzusteigen auf Bus und Bahn nutzt indes auch nicht viel. Am Morgen noch versuchen es einige Verkehrsbetriebe im Revier, Essen etwa schickt wenigstens seine U-Bahnen in die Tunnel – aber am Mittag geht nichts mehr. In Dortmund nicht, in Essen nicht, in Bochum oder Oberhausen: Die Straßen sind zu glatt, gefrorenes Wasser in den Schienen bremst die Züge aus. Das geht auch der Deutschen Bahn nicht viel anders, die Langstrecken von West nach Ost einstellt und auch durchs Ruhrgebiet, etwa von Düsseldorf über Duisburg nach Essen oder zwischen Hagen und Dortmund, nur noch eingeschränkt fährt. „Es wird“, sagt eine Sprecherin am Sonntagmorgen, „zunehmend schwierig, die Infrastruktur von Schnee und Eis freizuhalten.“
Tierzelt von „Zirkus Verona“ bricht unter der Schneelast zusammen
In Wuppertal gelingt das nicht. Dort bleibt die Schwebebahn im eisigen Wetter, ja, hängen. Einsatzkräfte müssen sechs Menschen mit Drehleitern aus luftiger Höhe befreien. In Hagen bricht am Sonntagmorgen ein Zirkuszelt unter der Last des Schnees zusammen. Zwölf Tiere werden gerettet, Ponys, Lamas, Ziegen. Die Feuerwehr zieht Spanngurte wieder fest und rammt Pfähle in den eisigen Boden, aber die Plane ist an mehreren Stellen gerissen. „Alle haben uns toll geholfen“, bedankt sich Zirkuschefin Tatjana Tränkler am Morgen. Wie es weitergeht, weiß sie trotzdem nicht. Wegen Corona darf der Zirkus nicht spielen, eine Reparatur kann sich „Verona“ nicht leisten.
Auch bei den niederländischen Nachbarn kommt der Schnee am Sonntag an. An den Stränden der Nordseeküste schneit es ebenso wie in Amsterdam, wo sich Bürger und Polizisten in der Nacht eine Schneeballschlacht liefern – was schon wegen Corona auch in den Niederlanden eigentlich verboten ist. Und apropos Corona: Test- und Impfzentren bleiben am Sonntag wegen der Verkehrslage vorsorglich geschlossen. Fußballspiele der ersten Liga sind schon seit Samstagabend abgesagt.
Schneestürme zuletzt 2010 und 2005
Besonders der starke Wind und dadurch entstehende Schneeverwehungen machen den Einsatzkräften überall zu schaffen. Am Niederrhein türmen sich die Haufen bis zu eineinhalb Meter hoch. Die Wetterdienste hatten seit Tagen genau davor gewarnt. Und bei den Menschen Erinnerungen geweckt, an die Schneestürme aus dem Januar 2010, als ein Blizzard über die Eröffnungsfeier der Kulturhauptstadt in Essen kam. Und an den Wintereinbruch 2005, als im Münsterland Strommasten abknickten – sogar Zeitungen in Südamerika hatten darüber berichtet.
Was diese Woche noch kommt, ist ungewiss: Die heftigsten Schneefälle dürften spätestens am Montag enden, aber es wird noch kälter und deshalb glatt. Tief Tristan und Hoch Isolde treiben die Temperaturen gemeinsam in die Tiefe, für die Wochenmitte sind zweistellige Minusgrade angesagt. Aber auch Sonne. Allerdings keine wärmende, wie in Italien: Dort gibt es zwar auch bis zu 20 Grad. Aber plus.