Viersen/Ruhrgebiet. Immer mehr Patienten werden ausfallend am Empfang von Kinder- oder Hausarzt. Medizinische Fachangestellte brauchen ein dickes Fell.
Neulich hat die Kinderärztin Christiane Thiele wieder so ein Gespräch an ihrem Empfang mitbekommen: „Ganz ruhig saß meine Medizinische Fachangestellte am Telefon und sagte immer wieder: Aber ich schreie sie doch gar nicht an.“ Am anderen Ende der Leitung aber wird es oft laut, und manchmal auch in der Praxis. Viel zu oft.
Die Aggression in Arztpraxen nehme zu, beklagt nicht nur Thiele, die dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein vorsteht. Auch der Verband medizinischer Fachberufe sieht hier schon länger ein Problem, das nun noch einmal verschärft wird. „Wir haben eine Umfrage zum Arbeitsschutz laufen“, sagt Sprecherin Heike Rösch. Und schon vor der offiziellen Auswertung können man sehen, dass der Stress durch Corona und Aggression noch einmal stark zugenommen habe.
Er schrie quer durchs Wartezimmer
„Alles Arschlöcher! Was für ein Saftladen!“, schrie neulich ein Vater in Thieles Praxis in Viersen. Dabei hatte er selbst die Gesundheitskarte vergessen. Am Empfang saß Jana Weggen. „Die meisten Patienten sind superfreundlich und haben für alles Verständnis“, sagt die 26-Jährige. „Aber die, die unangenehm herausragen, bleiben im Gedächtnis.“ Etwa fünf Prozent all ihrer Telefonate gestalten sich unschön, schätzt sie. „Wenn gerade politische Beschlüsse gefallen sind, ist der Anteil auch deutlich höher.“
Beim Kinderkrankengeld etwa ging es hoch her. Die Äußerungen aus Politik und selbst von Krankenkassen suggerierten im Dezember, es gebe einen Anspruch auf zehn zusätzliche Tage. Doch Kinderärzte dürfen natürlich nur dann solche Scheine ausstellen, wenn das Kind tatsächlich krank ist. Da ging es hoch her. „Sucht Euch einen anderen Job, wenn ihr keine Ahnung habt.“ Gilt das schon als Beleidigung?
Mal ist es die Grippeschutzimpfung, die nicht vorrätig ist. Dann ist der Wunschtermin nicht frei. Manchmal müssen Kinder fortgeschickt werden, weil sie Erkältungssymptome haben. „Das kann doch nicht wahr sein, stellt Euch nicht so an“, rufen manche Eltern dann. Andere meckern, schreien, drohen mit negativen Bewertungen im Netz oder damit, den Arzt zu wechseln. „Sie sagen, wir seien unfähig. Man versucht natürlich, sich ein dickes Fell zuzulegen, aber man ist auch nur ein Mensch“, sagt Weggen. „Und an manchen Tagen kommt es vor, dass man nach dem dritten Telefonat dieser Art an sich zweifelt.“ An manchen Tagen hat sie aber 30 solcher Gespräche.
Ein Fünftel aller Gespräche ist "anstrengend"
„Dickes Fell im Praxisalltag“ heißt auch ein Buch und ein Seminar, das Dietmar Karweina aus Königswinter anbietet, unter anderem für die genannten Verbände. “ Seine Schulungsteilnehmer geben im Schnitt an, dass rund ein Fünftel aller Gespräche „anstrengend“ ist. Bei 160 Telefonaten am Tag, sind das rund 30 Konflikte, die Kraft und Zeit rauben, denn diese Gespräche dauern auch einige Minuten länger. „Ich kenne kaum noch eine Kinderarztpraxis, in der die Fachangestellten geregelte Pausen und Feierabend haben“, sagt der Fachmann. Er führt den Fachkräftemangel auch auf diese Belastung zurück. „Die gehen energetisch am Stock.“
Auch vor Corona sei das schon ein Thema gewesen, sagt Karweina. „Unsere Gesellschaft entwickelt sich hin zu Ich, Ich, Ich.“ Immer mehr Menschen empfänden sich als Notfall und versuchen, auch bei kleineren Beschwerden eine sofortige Behandlung zu bekommen. Doch in der Pandemie ist das allgemeine Stressniveau natürlich noch gewaltig gestiegen - und zugleich sind Telefonate unpersönlicher, da lässt es sich leichter schimpfen.
Nur gemeinsam geht es
„Die Praxen brauchen eine Strategie“, rät Karweina. „Es geht darum, als gesamtes Team die Patientenführung durchzuziehen.“ Heißt: Der Arzt soll hinter seinen Mitarbeitern stehen. „Gerade die ganz unangenehmen Patienten zeigen oft zwei Gesichter. Vorne sind sie sehr fordernd, hinten beim Arzt sind sie ganz flauschig. Ärzte müssen es ernst nehmen, wenn Mitarbeiter ihnen Konflikte schildern. Und im Zweifel auch in die Kommunikation einsteigen.“
Den Fachangestellten rät Karweina: Nicht emotional einsteigen, erst recht nicht auf Sticheleien. „Wie lange muss ich denn heute wieder warten!?“ So ist der Streit programmiert. Das hat auch Jana Weggen gelernt: Dass man innerlich ruhig bleiben muss, selbst wenn man beschimpft wird. „Und dass man sich nicht klein macht, dass man selbstbewusst auftritt - gerade, wenn man in der Praxis beschimpft wird.“ Denn Schwäche wird ausgenutzt. „Es gibt Techniken, um das an sich vorbeiziehen zu lassen und rein sachlich zu behandeln“, sagt Dietmar Karweina. Seinen Schülern gibt er kleine Kärtchen mit, die sie sich übers Telefon heften können. Darauf ist ein Stier mit einem Torrero zu sehen. Olé!
>> Info: Väter schimpfen mehr
Deutlich mehr Väter als Mütter werden auffällig, was aber auch daran liegen mag, dass sie oft erst auftreten, „wenn die Mütter schon an uns gescheitert sind“, erklärt die Medizinische Fachangestellte Jana Weggen. „Manchmal rufen sie einfach nur noch mal an, um drauf zu schimpfen.“