An Rhein und Ruhr. Ein Jahr nach dem „Sturm“ auf den Reichstag hat die Querdenker-Szene viele Anhänger verloren. Kein Grund zur Erleichterung, mahnen Experten.

Rund 38.000 Menschen demonstrieren am 29. August 2020 in Berlin gegen die Corona-Politik – unter ihnen Rechtsextreme, Reichsbürger und Verschwörungstheoretiker. Am Rande einer Querdenker-Kundgebung eskaliert die Situation: Bis zu 400 Demonstranten durchbrechen die Absperrungen vor dem Reichstag. Reichsflaggen werden gehisst. Es kommt zu Rangeleien mit Polizisten. Bundespräsident Steinmeier spricht später von einem „Angriff auf das Herz unserer Demokratie“. Doch wie hat sich die Querdenker-Bewegung in NRW ein Jahr nach diesem Ereignis entwickelt? Welche Gefahr stellt sie noch da?

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„Die vergangenen Demonstrationen zeigen, dass die Leute zwar weniger geworden sind, aber immer radikalisierter und gewalttätiger auftreten“, sagt Extremismusforscher Alexander Häusler von der Hochschule Düsseldorf. Es gebe einen „harten Kern“, der auch dann weitermachen werde, falls die Corona-Krise irgendwann vorbei ist. „Es bleibt abzuwarten, auf welches Pferd dann gesetzt wird.“ Ein mögliches neues Thema sei die Leugnung des Klimawandels, so der Experte.

Auch das NRW-Innenministerium beobachtet einen Rücklauf der Teilnehmerzahlen: „Angesichts der sich entspannenden Corona-Situation durch die Impfkampagne verliert die Szene an Zulauf und Anschlussfähigkeit an breitere Bevölkerungsschichten“, heißt es auf NRZ-Anfrage. Das Versammlungsaufkommen sei seit April 2021 rückläufig. Und dennoch: Die Gefahr einer zunehmenden Radikalisierung bestehe weiterhin. Das Innenministerium habe die Sorge, „dass das Freund-Feind-Denken einzelne Akteure auch zu Gewaltstraftaten motivieren kann“.

Querdenker-Szene: Bürgerliche Mitte distanziert sich früh

Die Querdenker-Szene war Anfang 2020 entstanden – zunächst aus Protest gegen die Corona-Auflagen. „Zu Beginn der Proteste waren auch Leute dabei, die einfach unzufrieden waren und nicht wussten wie sie mit den Maßnahmen umgehen sollen“, so Häusler. „Die haben aber schnell gemerkt, in welche Richtung sich die Szene entwickelt.“ Spätestens seit dem sogenannten „Sturm“ auf das Reichstagsgebäude habe sich die „Spreu vom Weizen getrennt“. Während immer mehr Leute aus der bürgerlichen Mitte der Bewegung fernblieben, sei „das klassische Rechtsaußen-Spektrum, das anfangs noch nicht in Gänze aktiv war, auf den Zug aufgesprungen“.

Dass die Bewegung in ihren Anfängen noch ein großer Mix aus verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Strömungen war, sei aber ein Trugschluss: „Die Bewegung war gar nicht so heterogen wie vermutet wurde“, sagt Häusler. „Die vermeintlich bunt gemischten Gruppierungen waren größtenteils aus dem spirituell-alternativen Spektrum zusammengesetzt.“ Auch Auftritte von linken Politikern seien eher die Ausnahme gewesen. Das Neue an der Querdenker-Szene sei, dass sich spirituelle und rechtsextreme Strömungen anlassbezogen verknüpft hätten, die vorher nichts miteinander zu tun hatten. „Die einen aus Wissenschaftsskepsis, die anderen aus Demokratie- und Systemskepsis.“

Das gemeinsame Vorgehen der „Querdenker“: Delegitimierung und Verächtlichmachung politischer Entscheidungsträger, Verbreitung von Verschwörungsmythen und Missachtung von Corona-Auflagen. Das bekommen auch die Polizisten zu spüren: Den Beamten würden aus der Querdenker-Szene „Wut, Hass und Aggression“ entgegenschlagen, sagt Michael Mertens, NRW-Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. „Das liegt daran, dass die Polizei symbolisch für den Staat steht.“ Die Respektlosigkeit gegenüber Polizeibeamten, Rettungskräften und der Feuerwehr habe eine neue Dimension erreicht. „Wir registrieren einen deutlichen Trend zur Gewalt.“

Extremismusforscher: „Ein Milieu der Unzufriedenen“

Das aktive Mitwirken an der Querdenker-Bewegung habe sich laut dem Extremismusforscher Häusler in NRW quantitativ zwar verringert, „aber die Szene hat sich gleichzeitig ins wissenschaftsfeindliche, esoterische, spirituelle Milieu ausgebreitet und auch dort zu einer Radikalisierung geführt“. Auf der Straße artikuliere sich „ein Milieu der Unzufriedenen, ein neues Wutbürger-Spektrum“. Politisch könnten rechte Kleinparteien aber bislang nicht von der Bewegung profitieren, meint der Experte. „Sie erreichen nur wenige Wähler.“ Viel spannender sei, wie sich die Szene nach der Bundestagswahl entwickelt.

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Seit Mai 2021 werden Teile der Querdenker-Bewegung vom NRW-Verfassungsschutz beobachtet. Das schrecke die Mitglieder aber nicht ab. „Im Gegenteil: Es wertet sie in ihrem Weltbild sogar auf“, glaubt Häusler. Der harte Kern fühle sich dadurch gefestigt, weil die Anhänger aus ihrer Sicht nur verfolgt werden, weil sie vermeintliche „Lügen“ der Politik aufdecken. Radikalisierte Querdenker seien selten bis gar nicht für das demokratisch-freiheitliche System zurückzugewinnen, so der Experte. Die gesellschaftlichen Ränder würden immer größer.

Herbert Reul kündigte auf NRZ-Anfrage an, die Menschen weiterhin aufklären und sensibilisieren zu wollen, „damit sie den kruden Verschwörungsmythen nicht auf den Leim gehen“, sagt der NRW-Innenminister. „Und wir müssen die Anhänger, die sich noch nicht komplett aus der Mitte der Gesellschaft verabschiedet haben, mit Argumenten überzeugen, Demokratie und Rechtsstaat nicht aufzugeben.“

>>>Angriffe auf Polizei: Zahl der Körperverletzungen steigt

In NRW gab es 2020 bei Gewalt gegen Polizisten rund viermal so viele Fälle der einfachen Körperverletzung als im Vorjahr. Auch schwere Körperverletzungen nahmen laut Landeskriminalamt zu.

Insgesamt verzeichnete das LKA 2,16 Prozent weniger Angriffe auf Polizisten. „Eigentlich hätten die Zahlen deutlich sinken müssen“, mahnt Stephan Hegger, Sprecher der GdP NRW. Wegen Corona habe ein großer Teil der Demos und Fußballspiele nicht stattgefunden. Der „marginale“ Rückgang sei ein Zeichen, dass die Hemmschwelle sinke.