Herten. Für ihre „Vorbildliche Schulleitung“ wurden jetzt zwei Hertener Lehrerinnen ausgezeichnet. Dabei finden nicht alle, ihre Art zu arbeiten gut.
Die erste Maßnahme durchzuboxen war einfach: Stephanie Lehmann und Susanne Schäfer öffneten alle Türen. Die zu ihrem Büro mit den bunten Kinder-Zeichnungen und den rührenden Briefen voller Fehler an der Wand; dann die zum Lehrerzimmer, auf dessen Tisch in kleinen Körben stets Nervennahrung parat liegt (direkt neben dem Desinfektionsmittel); zuletzt die der liebevoll ausgestatteten Klassenräume. An der Grundschule Herten-Mitte, die die beiden Frauen seit 2010 gemeinsam leiten, sollte sich kein Kind, kein Kollege, keine Kollegin, keine Mutter und kein Vater ausgeschlossen, nicht willkommen fühlen. Dies sollte nicht nur ein Lern-, sondern auch ein Wohlfühlort sein. Eine Schule mit Herz, wie sie hier sagen.
Den offenen Türen folgten weitere, schwieriger umzusetzende Veränderungen an dieser Schule, die in einem sozialen Brennpunkt liegt: Kinderheim, Frauenhaus und Flüchtlingsunterkünfte im Einzugsgebiet, 320 Schüler mit 28 verschiedenen Nationalitäten. Aber Rektorin und Konrektorin erreichten offenbar, was sie anstrebten: Am heutigen Montag (4. Mai) erhalten Susanne Schäfer (51) und Stephanie Lehmann (53) den Deutschen Lehrerpreis, als Erstplatzierte in der Kategorie „Vorbildliche Schulleitung“. 25 Prozent des Kollegiums, so heißt es in der Ausschreibung, müssten die Bewerbung unterstützen. In Herten waren es 100, erzählt Lehrerin Virginia Kracht-El Badaoui.
Individuelles Lernen und klare Schulregeln
Bänkekreise in den Klassenräumen? Begeisterten nicht auf Anhieb. Susanne Schäfer fand sie gut, wollte sie aber niemandem „überstülpen“. Also stellte sie einen in ihre Klasse, lud die Kollegen ein: Kommt mal vorbei, guckt Euch an, ob es taugt. „Und heute“, erzählt Stephanie Lehmann, die damals als erste überzeugt war, „haben nicht nur wir, sondern alle Schulen in ganz Herten Bänkekreise“. „Manchmal dauert es“, erklärt Schäfer, „bis man an Schule etwas verändern kann. Aber es funktioniert nur, wenn man die Kollegen mitnimmt. Das Gras wächst ja nicht schneller, wenn man dran zieht.“
Die Einführung des „individuellen Lernens“ nennt die Rektorin im Rückblick „eine besondere Herausforderung“. Heute ist es etabliert an ihrer Schule, jedes Kind lernt in seinem ganz individuellem Tempo, jedes arbeitet an eigenen Aufgaben. „Geht ja gar nicht anders“, meint Konrektorin Lehmann, in deren 3. Klasse die eine „kleine Maus“ noch mit dem Zahlenraum bis 20 kämpfe, während die andere schon in den Heften der sechsten Klasse arbeite. Noten gibt es erst ab Klasse 4, aber dafür Kinderkonferenzen und Sprechtage nur für die Schüler. Im „Logbuch“, über das Lehrer und Eltern kommunizieren, sind klare Schulregeln („Wir werfen nicht mit Steinen, Sand und Schnee!“) nachzulesen. Ein „Motto des Monats“ zur Werteerziehung („Ich sage bitte!“, „Ich sage tschüss!“) brauchen sie in Herten-Mitte aber längst nicht. Bitte und Tschüss sagt hier heute jedes Kind. Mit dem „HerMiStar“ werden dafür nun besondere Leistungen oder Talente ausgezeichnet: gerade etwa Sabrina für ihre „Erfolge beim Deutschlernen“ sowie Maximilian und Gabriel für das „Erstellen einer Pokémon-Kartei“.
Unterrichtsmaterialien werden selbst erstellt – und weitergegeben
Jeden neuen Erstklässler – und seine Eltern – begrüßen die beiden Schulleiterinnen persönlich, beim „Schulspiel“, wenn es mit Konstantin, dem über 100 Jahre alten Drachen, der endlich lesen und rechnen lernen will, in den Zauberwald geht. Viele Unterrichtsmaterialien – etwa den Buchstabenweg „zum individuellen Erlernen der Schriftsprache“ – entwickelten sie selber. Und stellten sie dann den Lehrern der eigenen Schule (und anderen!) kostenlos zur Verfügung, unter anderem auf Schäfers Website www.zaubereinmaleins.de.
Lange vor der ersten Corona bedingten Schulschließung im März 2020, „in weiser Vorahnung“, wie das Kollegium in der Bewerbungsmappe für den Lehrerpreis schreibt, versorgte das Schulleiter-Team alle Schüler mit Materialpaketen, etablierte (und erklärte) ein digitales Austauschforum. Einmal am Tag sieht jeder Lehrer auch nun, da die Schulen erneut dicht sind, alle seine Schüler und Schülerinnen in einem halbstündigen Videochat. „Das Jahr der Pandemie war nicht mein schwierigstes“, meint Susanne Schäfer, „aber es war mein anstrengendes. Denn wir machen das alles mit privaten Mitteln, von zuhause, ohne Unterstützung“. Über ihren Dienstcomputer käme sie nicht einmal an die Website der Schule, „Zugang gesperrt von der Stadt“, sagt Schäfer.
„Wir polarisieren. Nicht jeder findet unsere Art zu arbeiten gut“
Eine „grandiose Leistung“ bescheinigt das Kollegium seinen Chefinnen in der Bewerbungsmappe, die es ohne deren Wissen abschickte. Doch natürlich gibt es auch an dieser Grundschule Konflikte. „Unsere Konferenzen finden nicht bei Kerzenschein und Tee oder als Ringelpiez mit Anpacken statt, “, sagt Lehmann. „Unser Ziel ist es nur, dass alle da mit einem guten Gefühl rausgehen.“ Es gelinge meistens, nicht immer. Zuletzt etwa, das galt es 13 neue Whiteboards zu verteilen – auf 15 Klassen. Am Ende: verzichtete das Schulleiter-Team.
„Aber nicht jeder findet unsere Art zu arbeiten gut“, räumt Schäfer ein. „Wir polarisieren, waren die ersten, die als Team auftraten in der Stadt. Einigen sind wir zu weit weg vom Lernplan, anderen zu renitent. Für manche sind wir schlicht zu schnell.“ Deshalb habe man sich schon von Kollegen getrennt, „oder die sich von uns.“ Auch die Schulaufsichtsbehörde melde sich schon mal, „gesteht“ die Rektorin, die der festen Überzeugung ist, dass selbst Beamte Kritik am System üben dürften, „Wenn man dafür ermahnt wird, muss man das halt hinnehmen.“
Herzmensch die eine, Kopfmensch die andere
Miteinander haben Schäfer und Lehmann, die sich bei Abstimmungen im Lehrerkollegium oft bewusst enthalten, ebenfalls schon den ein oder anderen Streit ausgefochten („nicht nur über schulische Dinge!“) . Zu unterschiedlich seien allein ihre beiden Charaktere: „Herzmensch“ die ein (Lehmann über Schäfer), Kopfmensch die andere (Schäfer über Lehmann). An die letzte Auseinandersetzung können sich beide indes schon gar nicht mehr erinnern. Sie wurde, das ist ziemlich sicher, bei einem Glas Wein beigelegt.
302 Rektorenstellen an Grundschulen waren Mitte vergangenen Jahres in Nordrhein-Westfalen vakant. Diesen Job will kaum noch ein Lehrer übernehmen. Die Balance zwischen Verantwortung und Bezahlung stimme nicht, sagt die GEW. Schäfer sagt: „Ich wollte meine Vision von Schule umsetzen. Und das geht nur in leitender Funktion.“ Allein die Nominierung für den Deutschen Lehrerpreis rührte sie und Lehmann zu Tränen. Denn beide sind der Überzeugung: „Wenn es gut läuft, ist das vor allem zum Vorteil der Kinder.“ Sie sei eine richtig „coole Lehrerin“, „witzig aber auch lieb streng“ schrieb ein Junge aus der 3. Klasse Susanne Schäfer einmal. „Die Beste“.
>>> INFO Der Deutsche Lehrerpreis
Träger des Wettbewerbs sind Heraeus-Stiftung und Deutscher Philologenverband.
Rund 6400 Schüler und Lehrkräfte reichten Vorschläge ein, vergeben wurden 19 Auszeichnungen.
Zwei weitere Preise gingen nach NRW, an die „ausgezeichneten Lehrkräfte“ Karsten Brill vom Marie-Curie-Gymnasium in Bönen und an Mehmet Cosgunoglu von der Albert-Schweitzer-Schule in Remscheid.