Essen. Die Leerstände fressen sich in die Vororte des Ruhrgebiets. Dort kämpft der Einzelhandel im Zeitalter der Zentralisierung und Digitalisierung ums Überleben. Marl, Oberhausen, Gelsenkirchen – ein Besuch bei den Händlern, die noch die Stellung halten.
Zwei Bäcker, eine Friseurin und eine Bügelfrau halten noch die Stellung auf der Achse der toten Geschäfte. Und ein lebloses Hinterhofnagelstudio, das laut Aushang „Termine nur nach Vereinbarung“ macht – ob überhaupt noch, das ist freilich nicht ganz klar.
Ansonsten aber ist das Geschäftsleben erloschen auf dem oberen Lipper Weg: Der „Drewer Hof“ ist zu und „Die Bratpfanne“ ausgeräumt, etliche Ladenlokale sind verhängt oder leer oder beides, und die frühere Sparkassenfiliale kann man mieten oder kaufen. Je nach Laune. Hat sich aber noch niemand gefunden in anderthalb Jahren.
Ein Sonnenstudio hinterließ seine neue Adresse, ein Shisha-Café einen verblassten Schriftzug – lieber Himmel, selbst die, die kommen, wenn der klassische Einzelhandel geht, sind schon wieder weg. „Tote Hose hier“, sagt die durchradelnde Postbotin. „Es ist schwer, man muss kämpfen“, sagt der verbliebene Bäcker.
Durchaus Geschäfte, die es nicht überall gibt
Thomas Hegmans hat diesen einen Laden, mehr will er auch gar nicht, „ich kann die Frau ja nicht teilen“. Er backt hinten, sie verkauft vorne, so kommen sie zurecht; fragte man aber jetzt die Altbäckerin im Hinterhaus, die hätte Fotos, da steht der Laden richtig voll. Und drei Verkäuferinnen hatte sie!
Hegmans telefoniert gelegentlich um Aushilfen.
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Marl-Drewer. Ein großes Vorortzentrum à la Ruhrgebiet: stilistisch durchmischt, Hochhäuser dazwischen, viel Platz für Autos und Parken und durchaus einige Geschäfte, die es n icht überall gibt. Doch von den Rändern her löst es sich auf, und das macht es leider typisch. Der Stuttgarter Stadtplaner Professor Franz Pesch sagt: „Nebenzentren sind die eigentlichen Verlierer unter den Zentren.“
Keiner will mehr als 600 Meter laufen
Keine großen Magnete, viele kleine Inhaber, deren Sortimente nicht mehr mithalten können in einer Zeit, in der man sich alles nach Hause schicken lassen kann – und zurück, bis es passt. „Die Leute sind heute hochmobil, aber weiter als 600 Meter will niemand mehr laufen“, sagt Pesch. So sei es überall, und im Ruhrgebiet komme eines hinzu: „Sie haben eine starke Konzentration von Handelsflächen in Einkaufszentren, und diese Elefantenrennen verursachen Kollateralschäden am Rande.“
In Recklinghausen wird grad wieder eines gebaut. Und in Hagen. Und in Bochum im nächsten Jahr. In den Vororten führe das zu desolaten Lagen und schlimmen Stadtbildern. „Was wir hatten, wird nicht wiederkehren. Es geht um Stabilisierung auf niedrigerem Niveau.“
Neukirchen-Vluyn, Hochstraße. Immer mehr leere Läden, immer weniger Leben im Dorf, deshalb stricken die Damen von der „Dorfmasche“ dagegen an. Bestrickten erst ein Fahrrad, dann einen Baum, dann ein ganzes Haus, um Aufmerksamkeit zu erzielen; doch wenn sie die Maschen demnächst abnehmen, steht das Haus genauso leer da wie zuvor.
In den Randbereichen ist vieles "leer und tot"
Gelsenkirchen-Horst, Essener Straße. Wo der Runde Tisch engagierter Bürger zuletzt zum Picknick einlud, um die schwächelnde Fußgängerzone in der Vorstadt zu stärken. Dass sie demnächst wieder teilgeöffnet werden könnte für Autos, sieht der Tisch eher kritisch.
Oberhausen-Sterkrade. Der Kern sei intakt, schrieben Gutachter gerade auf, doch in den Randbereichen wirke vieles „leer und tot“. Spielotheken und Billiganbieter drängen in die Fußgängerzone, Einzelhandel verschwindet. „Wir sind in einer Abwärtsspirale, die müssen wir stoppen“, sagt Robbie Schlagböhmer, der Vorsitzende der Interessengemeinschaft.
Der Bäcker versucht seine Kekse über Facebook zu bewerben
Lünen, hinter dem Bahnhof. Arif Kalabalik hat keine Nachbarn mehr. „Es läuft schlecht in letzter Zeit“, sagt Kalabalik. Die vielen Leerstände seien „klassische Folge der Konzentration auf die Innenstadt“, sagt ein Beigeordneter: „Wir müssen anerkennen, dass periphere Lagen leiden.“
Ein letztes Mal nach Drewer. Hegmans, der Bäcker, geht in seinem 54. Lebensjahr ins Internet, um den Laden zu stärken. Eigene Seite, Facebook, Keksverkauf im Netz. „20 Prozent Geschäfte weniger in Drewer“, so schätzt er die Entwicklung der letzten Jahre ab. Bis in den Ortskern hinein haben sich Leerstände gefressen, hängen neben gut laufenden Läden auch immer wieder diese Schilder: „Zu vermieten“. „Geschlossen“. Das Schnellrestaurant da drüben wird offensichtlich auch nicht mehr bespielt, so beklebt, wie seine Fenster sind. Mal sehen, wofür die Plakate werben...
Sie werben für ein reisendes Musical: „Der kleine Horrorladen.“ Demnächst auch in Ihrer Stadt!