Bochum/Iserlohn. Sara wurde fast taub geboren, sie war „wie eingeschlafen“, sagt ihr Vater. In Bochum bekam sie Hilfe. Nun sei sie aufgewacht, „ein anderes Kind“.

Am Dienstag ist Stille Nacht. Aber nicht für Sara. Schließlich war es lange genug still um sie herum. Das kleine Mädchen, es kann ja jetzt hören. Das Kind, das vor zehn Jahren fast taub zur Welt kam, es kann jetzt endlich hören! Zwei Hör-Implantaten und einer Bochumer Spezialklinik sei Dank.

Sara und ihr Papa Aldahshan Ayman: ein starkes Team. Unmittelbar nach der Geburt musste der Arzt sein eigenes Kind reanimieren.
Sara und ihr Papa Aldahshan Ayman: ein starkes Team. Unmittelbar nach der Geburt musste der Arzt sein eigenes Kind reanimieren. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Das erste, was Aldahshan Ayman für seine Tochter tun musste, war: sie wiederzubeleben. Noch im Kreißsaal, nachdem es bei der Geburt zu einer Sauerstoffunterversorgung des Babys gekommen war. Sara hatte Glück. Ihr Papa ist Arzt, Anästhesist. Er erkannte die Situation sofort, reagierte rasch. Und er wusste, wie man ein Neugeborenes reanimiert. Sara überlebte.

Verzweifelt schlug Sara immer wieder ihren Kopf auf den Boden

Das Gehirn aber war da durch den Sauerstoffmangel unter der Geburt bereits massiv geschädigt. Sara ist mehrfach behindert, körperlich und geistig. Anfangs krampfte sie viel und heftig, verbrachte Wochen im Krankenhaus, erzählt ihr Vater. In Amman war das, in Jordaniens Hauptstadt, wo die Familie damals noch lebte. „Es war eine sehr schwierige Zeit“, sagt Aldahshan Aymann leise. Drei Monate dauerte es, da merkten die Eltern: Sara hört nicht. Klatschten ihre Brüder in die Hände, reagierte die Schwester nicht. Die Eltern – auch Saras Mutter ist Ärztin – ließen Tests beim Spezialisten machen. Mit sechs Monaten war es offiziell: Sara ist schwerhörig. ein Jahr später erhielt sie ein Hörgerät. 2011 sprach sie zum ersten Mal; die drei Worte Opa, Licht und Allah – auf arabisch natürlich. Die Familie zog erst in jenem Jahr nach Deutschland. Heute lebt sie in Iserlohn; Aldahshan Ayman arbeitet als Oberarzt in der Schmerztherapie der Lüdenscheider Sportklinik Hellersen.

„Es war schwer zu akzeptieren, dass unsere Tochter anders ist, dass sie so viel Betreuung braucht, so viel Einsatz“, erinnert er sich. „Aber wir dachten damals, nun spricht sie, nun wird alles gut.“ Wurde es nicht. Sara vertrug das Hörgerät nach einer Weile nicht mehr, sie bekam Druckstellen. Sie sprach nicht mehr, und bei den regelmäßigen Hörtests schnitt sie immer schlechter ab. Nahm sie anfangs noch eine Lautstärke von 50 Dezibel wahr, waren es später nur 60, bald darauf bloß noch 90. Um das ein einzuordnen: Geräuschpegel über 85 Dezibel erfordern Lärmschutz….

Sara, erzählt ihr Vater, habe sich komplett in ihre eigene Welt zurückgezogen. Sie war „wie eingeschlafen“, mochte nicht schmusen mit der Mama, nicht spielen mit den Brüdern, konnte sich nicht freuen über ihre neue, kleine Schwester. „Wenn sie etwas wollte, weinte sie. Das war ihre einzige Möglichkeit zu kommunizieren“, sagt Aymann. Es habe ihm „das Herz zerrissen“, sein Kind so leiden zu sehen. Hilflos zu beobachten, wie es den Kopf auf den Boden schlug. „Weil es die Vibrationen spüren wollte“, glaubt der Vater. Oder weil die Eltern wieder einmal nicht verstanden hatten. Dass sie nicht trinken wollte. Sondern duschen.

1995 wurde in Bochum dem ersten Patienten ein Cochlea-Implantat eingesetzt

Ein Cochlea-Implantat: rechts der Teil, der in den Schädelknochen eingesetzt wird (mit den Elektroden, die in die Hörschnecke eingeführt werden); links die Teile, die außen getragen werden.
Ein Cochlea-Implantat: rechts der Teil, der in den Schädelknochen eingesetzt wird (mit den Elektroden, die in die Hörschnecke eingeführt werden); links die Teile, die außen getragen werden. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Die Hausärztin in Iserlohn empfahl den Aymans schließlich das Bochumer Cochlea-Implantat-Zentrum am St. Elisabeth-Hospital, das zum Katholischen Klinikum und der HNO-Klinik der Ruhr-Uni gehört. 1995 wurde hier dem ersten Patienten ein Cochlea-Implantat eingesetzt, eine Art Hörprothese. Inzwischen zählte man hier man insgesamt gut 1500 solcher Operationen. Zum interdisziplinären Team gehören neben Ärzten Logopäden, Heilpädagogen und Ingenieure. Der jüngste Patient bisher war ein wenige Monate alter Säugling, der älteste über 80.

Prof. Stefan Dazert, Direktor der Hals-, Nasen und Ohrenheilkunde, und Spezialist für Hörimplantate, lernte Sara 2015 kennen, da war sie längst komplett taub. Er erinnert sich gut an ihre erste Begegnung – Saras vieler Probleme wegen. „Wir wussten, dass ihr Hörnerv stimulierbar ist, ihr ein Cochlea-Implantat also helfen könnte. Aber wir mussten abwägen, ob wegen ihrer vielfachen Behinderungen eine solche Operation überhaupt Sinn macht.“ Denn mit dem Einsetzen der Hörprothese ist es es nicht getan. Das Gehirn eines Menschen mit einem „CI“ muss sich an die neuen Eindrücke gewöhnen, das Hören danach erst (wieder) gelernt werden, wie eine komplizierte Fremdsprache.

Unsere Tochter war wie eingeschlafen, sagt Saras Vater. Nun ist sie aufgewacht

Auch Saras Eltern diskutierten lange, ob sie ihrer Tochter den Eingriff zumuten sollten. Sie wussten, die Operation ist sicher durchführbar und die Komplikationsrate nicht hoch; aber ein Teil des Cochlea-Implantats muss im Schädelknochen verankert werden, die Elektroden werden direkt in die Hörschnecke (lat.: cochlea) eingeführt. Der Eingriff dauert etwa 90 bis 120 Minuten, er erfolgt in einem „anatomisch sensiblen Gebiet“, wie Chefarzt Dazert einräumt. Gesichtsnerv, Gleichgewichtsorgan, Schädelbasis, Gehirn – all das ist dort eng benachbart. Die Entscheidungsfindung dauerte Monate, am Ende waren sich Ärzte und Eltern einig: Alle konservativen Möglichkeiten sind ausgeschöpft. Gebärdensprache wird dieses Kind wegen seiner Mehrfach-Behinderung womöglich nie lernen – Sara bekommt das CI, ihr Cochlea-Implantat.

Prof. Dr. Stefan Dazert leitet die HNO-Klinik der Ruhr-Universität Bochum am St. Elisabeth-Hospital. 1995 erhielt hier der erste Patient ein Cochlea-Implantat.
Prof. Dr. Stefan Dazert leitet die HNO-Klinik der Ruhr-Universität Bochum am St. Elisabeth-Hospital. 1995 erhielt hier der erste Patient ein Cochlea-Implantat. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Die OP im Jahr 2016 verlief reibungslos. Und noch im Krankenhaus feierte die Familie sie als fantastischen Erfolg. Denn Sara, damals 7, machte unmittelbar nach der Operation: ihre ersten Schritte. „Das hing vermutlich nicht direkt mit dem Eingriff zusammen“, lacht Dazert. „Aber Hören ist grundsätzlich wichtig für die Orientierung im Raum. Es wird Sara in ihren Bewegungsabläufen unterstützen.“ Sara sei „aufgewacht“, glaubt ihr Vater. „Sie verließ damals ihren dunklen Raum, sie wurde ein ganz anderes Kind.“ Hören, erklärt Dazert, sei eine „elementare Sinnes-Funktion für Menschen“. Kognitive Defizite könnten durch ein CI, wie Saras Beispiel zeige, deutlich verbessert werden. „Doch das ist ein komplexer Bereich. Und wir haben gerade erst begonnen, das zu verstehen.“

„Hören hilft Vertrauen aufzubauen“

Es brauchte weitere zwei Jahre, eine zweite OP und ein zweites CI auch fürs andere Ohr, bevor Sara auf Ansprache zu reagieren und selbst wieder zu formulieren begann. Kleine, einfache Worte nur. Aber ihr Vater ist dankbar für jedes einzelne. „Yaya“ war das erste – und niemand bezweifelte, dass das Sara heißt. Als er es hörte, sagt Aymann, sei „ein Traum wahr geworden“. Seine Frau warte zwar noch immer sehnsüchtig auf das erste „Mama“ ihrer Zehnjährigen, aber auch sie sei überglücklich, dass ihr Kind endlich reagiert, wenn sie „Nein“ oder „Stop“ sage. „Das macht für uns einen Riesen-Unterschied“, sagt ihr Mann. Inzwischen spiele Sara auch sehr gern mit ihren Geschwistern, sei zudem „viel kuscheliger“ geworden. „Hören“, erklärt Prof. Dazert auch dies, „hilft Vertrauen aufzubauen.“

Und kürzlich, das mus Mechthild Bergmann, Saras Logopädin im Elisabeth-Hospital an dieser Stelle stolz einwerfen: da habe Sara SIE in der Therapiestunde mit einem klaren, freundlichen, bewussten „Hallo“ begrüßt. „Ein sehr bewegender Moment“ für die Therapeutin, obwohl sie doch schon so viele Kinder gesehen habe, die sich mit Cochlea-Implantaten hervorragend entwickelt hätten.

In Saras schwarzen Locken verschwindet das Implantat fast vollständig

Zwei, die sich sehr nahe stehen: Sara während der Therapiestunde im Bochumer Elisabeth-Hospital mit Logopädin Mechthild Bergmann. Jüngst begrüßte das mehrfach behinderte Kind sie mit einem „freundlichen, klar verständlichen Halllo“ – ein unglaublicher Moment für die Therapeutin.
Zwei, die sich sehr nahe stehen: Sara während der Therapiestunde im Bochumer Elisabeth-Hospital mit Logopädin Mechthild Bergmann. Jüngst begrüßte das mehrfach behinderte Kind sie mit einem „freundlichen, klar verständlichen Halllo“ – ein unglaublicher Moment für die Therapeutin. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Sara wird vielleicht nie sein wie andere. Aber sie mache gewaltige Fortschritte auf ihrem Weg, sagt ihr stolzer Vater. Und jetzt, hier in ihrer Klinik, singt und tanzt und jauchzt das Mädchen mit Mechthild Bergmann, so fröhlich und wild wie andere Kinder auch. Die schwarzen, widerspenstigen Locken, in denen das Implantat fast verschwindet, wippen dabei zum Takt von „Alle Vögel fliegen hoch!“ Sara liebt ihre Therapiestunden in Bochum, für die sie die Eltern einmal in der Woche aus Iserlohn herfahren und für die ihr ihre Förderschule in Hemer „frei“ gibt. „Alle meine Entchen“, erzählt Bergmann, möge Sara am liebsten. „Und Chopin. Chopin vor allem“.

Jüngst stutzte ihre kleine Patientin zudem erstmals beim Läuten der Glocken der nahen Propsteikirche. Das Geräusch schien ihr zu gefallen, es war ja ein ungehörtes, nie zuvor Erlebtes. Am Dienstag wird Sara mehr davon bekommen. Am Heiligen Abend, wenn die anderen Stille Nacht feiern.

>>>> Info: Cochlea-Implantat

Mehr als
750.000 Menschen weltweit tragen ein Cochlea-Implantat. In Deutschland sind es Schätzungen zufolge rund 40.000. Zu erkennen sind sie meist nur an dem kleinen „Knopf“ auf der Kopfhaut über dem Ohr – einem Sprachprozessor, der mit Mikrofon und Hörgerät verbunden ist. Mit einem Magneten haftet er an dem Empfängerimplantat, das in den Schädelknochen eingesetzt wurde.

Nicht jeder HNO-Arzt kann diese Operation machen. Aber für spezialisierte Chirurgen ist der Eingriff inzwischen fast Routine. Die HNO-Klinik der Ruhr-Uni im St. Elisabeth-Hospital
gehört in NRW zu den größten Zentren für die Versorgung mit Hörimplantaten. Die Kassen zahlen inzwischen „ohne Diskussion“, wie Dazert sagt, „anders als früher.“ Für die OP und die folgende Therapie, bei Kindern drei, bei Erwachsenen zwei Jahre lang.

Wer glaubt, dass das Kind ein Hörproblem hat, sollte sich so früh wie möglich an einen HNO-Arzt wenden, empfiehlt der Experte. „Kinder, die bis zum 1. Lebensjahr mit einem CI versorgt werden, haben große Chancen, ein annähernd normales Hör- und Sprachvermögen zu entwickeln.“

Gehörlose mit einem
geschädigten Hörnerv profitieren von einer CI-OP allerdings nicht.