Essen. Die Pandemie ist nicht überwunden, sagt der Essener Virologe Prof. Ulf Dittmer. Aber es gibt Hoffnung, dass wir nicht wieder „bei null“ landen.
Die Fakten liegen auf dem Tisch, doch viele verstehen sie nicht mehr: Gut 55 Prozent der Deutschen haben vollständigen Impfschutz, gleichzeitig steigen die Covid19-Fallzahlen wieder, unerwartet früh, unerwartet rasant, viel schneller als im vergangenen Sommer. In den Krankenhäusern, auf den Intensivstationen indes spürt man davon wenig bis nichts – obwohl die gefürchtete Delta-Variante des Virus längst die am weitesten verbreitete ist. Prof. Ulf Dittmer, Chefvirologe der Essener Universitätsmedizin, klärt die wichtigsten Fragen.
Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein: Stehen wir kurz vor dem Ende der Pandemie oder mitten in einer 4. Welle?
Dittmer: Ich fürchte: weder noch! Die Situation ist wie beschrieben, viele Menschen sind geimpft, auch die Risikogruppen. Die Impfquote bei den Über-60-Jährigen ist hervorragend. Doch die Delta-Variante frisst den saisonalen Effekt auf, was zu steigenden Zahlen schon im Sommer führt und zu verstärkten Infektionen bei den Jüngeren. Und der Blick nach Großbritannien zeigt leider, dass in den Krankenhäusern doch wieder etwas passiert, wenn man sehr hohe Inzidenzen hat. Unter 100 Neuaufnahmen Covid19-Kranker täglich waren es dort in der besten Phase – und dann wieder 700 bei einer Inzidenz von über 400, auch diese Zahl war allerdings meilenweit entfernt von der Hochzeit der Pandemie, als in England täglich bis zu 4500 neue Patienten in den Kliniken landeten.
Bei uns sind inzwischen sind gut 84 Prozent der Über-60-Jährigen vollständig geimpft. Reicht das als Erklärung, warum sich hier die steigende Zahl der Infektionen derzeit nicht in schweren Verläufen widerspiegelt?
Auf jeden Fall ist es der Hauptgrund. Einzelne schwere Erkrankungen bei Jüngeren gab es auch früher, da sehen wir keinen Unterschied. Unklar ist, ob Delta die Krankheitsverläufe wirklich verändert. Es gibt Daten, die in die eine und welche, die in die andere Richtung weisen. Sicher ist: Delta ist sehr infektiös, es hat sich im Sommer in Windeseile gegen Alpha durchgesetzt, das war „evolution at its best“. Anderseits entwickelt sich ein über Tröpfchen übertragbares Virus am Ende immer so, dass es sich im Nasen-Rachen-Raum festsetzt, was leichtere Verläufe zur Folge hat. Eine schwere Infektion der Lunge ist—salopp gesagt -- nicht im Interesse des Virus, von da kann es sich ja nur schwer verbreiten. Dieser Prozess kann aber einige Zeit dauern.
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Das RKI hält an der Inzidenz als Leit-Indikator zur Beurteilung der Lage fest. Andere fordern, dass weitere Parameter zumindest berücksichtigt werden: die Lage in den Kliniken, auf den Intensivstationen oder die Impfquote etwa…
Mich irritiert, dass bei einem Virus, das in erster Linie als medizinisches Problem angesehen werden muss, solche Parameter noch nicht berücksichtigt werden. Sich ausschließlich am Inzidenz-Wert zu orientieren, geht am Problem vorbei, daraus kann man keine Effekte und keine Maßnahmen mehr ableiten. Das macht man bei anderen Viren ja auch nicht: 95 Prozent aller Menschen sind mit Herpes-Viren infiziert… Mich stört allerdings, dass im Entwurf der CDU für die Ministerpräsidentenkonferenz die stationäre Neu-Aufnahme von Covid19-Patienten nicht enthalten ist. Diese Zahl ist für mich als Parameter zur Beurteilung der Lage gesetzt – neben Impfquote, Altersverteilung der Infektionen und vielleicht der Auslastung der Intensivstationen.
Thema Impfung. Gut die Hälfte der Deutschen ist durch, aber seit Wochen geht es nur noch zäh voran, obwohl es an Vakzinen nicht mehr mangelt. Brauchen wir – aus virologischer Sicht -- mehr Druck auf die Ungeimpften?
Ob sich jemand impfen lässt, ist eine individuelle Entscheidung. Mit Ausnahme der Masern ist das in Deutschland immer so. In dem Moment aber, da ein Ungeimpfter Hoch-Gefährdete betreut, sehe ich das anders. Da ist der Fremdschutz in meinen Augen höher einzuschätzen. Wer also etwa Organtransplantierte in einer Klinik betreut, muss geimpft sein. Wir sehen aber inzwischen: Wir werden keine Herdenimmunität erreichen. Und das bedeutet: Einige Ungeimpfte wird es noch schwer treffen. Über einige Jahre gesehen, liegt ihre Chance, dass das Virus sie erwischt, bei fast 100 Prozent.
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Impfgegner argumentieren neuerdings auch mit der wachsenden Zahl von Impfdurchbrüchen…
Kein Impfstoff ist 100-prozentig wirksam. Die Vakzine, die wir haben, sind unglaublich gut, sie wurden ja entwickelt, um vor der Erkrankung Covid19 zu schützen und dann zeigte sich, sie schützen auch hervorragend vor der Infektion. Das hatten wir so nicht erwartet, das ist sensationell. Für mich ist die Zahl der Impfdurchbrüche verschwindend gering – überhaupt kein Grund, daraus abzuleiten, sich nicht impfen zu lassen. Sie zeigt im Gegenteil, wie gut die Impfung funktioniert.
Ende September sollen in NRW die Impfzentren schließen – und die Drittimpfungen beginnen. Wie ist denn das zu verstehen?
Stimmt, dieses Signal ist nicht optimal. Die Impfzentren sind aber sehr, sehr teuer. Jede Impfung dort kostet fünf- bis zehnmal so viel wie die beim Hausarzt. Und letztendlich ist es egal, wo die Menschen geimpft werden. Die Drittimpfungen der Hochbetagten müssen da nicht stattfinden, wenn die Arztpraxen es leisten können.
Apropos Drittimpfung: Wer wird sie brauchen, nur die Älteren oder wir alle?
Im kommenden Winter sicherlich noch nicht alle, im nächsten Winter wahrscheinlich doch. Studien zeigen, viele Über-60-Jährige verlieren Antikörper schneller als Jüngere, bei denen die Werte deutlich länger stabil bleiben. Aber eben auch nicht unendlich lange.
Herdenimmunität zu erreichen, ohne Kinder und Jugendliche zu impfen – wird schwer, sagen die einen. Sie allein deshalb zu impfen, sei unethisch, sagen andere. Wie sehen Virologen dieses strittige Thema?
Wir sehen beide Aspekte: Welchen medizinischen Schutz bringt die Impfung dem einzelnen und was bringt sie für die Herdenimmunität. Die viel kritisierte Stiko beurteilt nur ersteres, das verstehen viele nicht, aber genau das ist ihre Aufgabe. Und Tatsache ist, dass Kinder und Jugendliche bislang nur wenig betroffen waren von schweren Verläufen, im Grunde gab es nur einzelne Fälle von Pims-Syndromen. Das heißt: Die Latte liegt also hoch, will man die Sicherheit des Impfstoffs beurteilen. Andererseits sieht man gerade in England, dass sich Delta stark unter Schülern verbreitet. Das kann hier nach den Ferien auch passieren. Von daher: Wäre es vielleicht gut, auch die Zwölf- bis 17-Jährigen zu impfen.
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Ist die entscheidende Frage nicht sowieso: Was können wir im Kampf gegen die Pandemie erreichen – solange nur die reichen Länder über Impfstoff verfügen?
Ja, auf jeden Fall. Es ist essenziell, dass die Impfstoffproduktion hochgehalten wird, dass vor allem in Südamerika und Afrika die Menschen immunisiert werden. (In Asien sind einige Länder nicht besonders stark betroffen. Man vermutet, dass dort durch andere Viren eine gewisse Immunität vorliegt.) Es gibt aber Hoffnung, dass das gelingen kann, bei der HIV Therapie hat man es mit Hilfe der WHO ja auch hingekriegt. Allerdings wird das dauern.
Zurück zu uns: Nächste Woche enden die Ferien. Familien haben Urlaub im Süden gemacht, in Hochrisikoländern, kehren womöglich infiziert zurück. Die Schulen in NRW aber starten mit Präsenzunterricht ins neue Jahr…
Reisen und das Einschleppen des Virus spielen in jeder Pandemie eine Rolle, auch in dieser. Das war im letzten Sommer so und wird auch in diesem so sein. Und es mag mit Delta sogar ein noch schwierigeres Problem werden. Delta infiziert Kinder – anders als andere Varianten – häufiger. Doch die S3-Hygiene-Leitlinie für Schulen ist gut. Sie muss jetzt nur auch konsequent angewendet werden. Mit ein wenig Hilfe lässt sie sich leicht umsetzen. Schade, dass es diese Unterstützung für Schulen bislang nicht gab.
Am 7. September diskutiert der Bundestag über Ende oder Verlängerung der Pandemie-Lage. Wie sollte er entscheiden?
Sie muss verlängert werden! Wir wissen nicht, was uns bevorsteht. Und wenn etwas völlig falsch läuft, muss man reagieren können.
Ihr Blick auf Herbst und Winter: Was wäre die denkbar beste Entwicklung, was das schlechteste Szenario in Ihren Augen?
Wenn sich noch mehr Menschen impfen ließen, vor allem die Risikogruppen; wenn die Drittimpfungen gut funktionierten; wenn sich die in den nächsten Monaten sicher steigenden Inzidenz-Werte nicht in den Kliniken niederschlagen würden – das wäre die beste Entwicklung, die, von der ich hoffe, dass sie eintritt – dann ist Sars-CoV-2 nicht anders als andere Viren auch, Grippe etwa oder RSV, ein Virus, dass für Kinder deutlich gefährlicher ist als SarsCoV2. Wenn es ganz übel läuft, schert sich eine neue Virusvariante nicht um unsere Impfungen, infiziert nicht nur Geimpfte, sondern lässt sie auch erkranken. Dann wären wir wieder bei null. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das passiert.
>>> INFO: Zahlen und Fakten
Weltweit sind seit Beginn der Corona-Pandemie über 200 Millionen Covid19-Infektionen und 4,3 Millionen Tote gezählt worden. In Deutschland waren es bis Dienstag 3,8 Millionen Infektionen, in NRW mehr als 830.000 – sowie 91.810 bzw. 17.308 Tote.
Die wird vom RKI mit 34,9 für NRW angegeben, bundesweit liegt sie bei 23,5. Seit rund einem Monat steigen die Fallzahlen wieder an, sie haben sich seit Juli mehr als vervierfacht. Bundesgesundheitsminister Spahn warnte jüngst: Setze sich die aktuelle Entwicklung fort, überschreite die Inzidenz im Oktober den Wert von 800.
Mehr als 95 Millionen Impfungen sind inzwischen bundesweit erfolgt. In NRW sind 57,1 Prozent der Menschen vollständig geimpft. Bei den Über-60-Jährigen liegt die Quote sogar bei 84,3 Prozent, in der Altersgruppe der Zwölf- bis 17-Jährigen ist sie am niedrigsten (12,6 Prozent), für noch Jüngere ist bislang kein Vakzin zugelassen. Bei bundesweit bisher fast 46 Millionen vollständig Geimpften wurden 9000 „Impfdurchbrüche“ (Covid19-Infektionen trotz vollständiger Impfung) gezählt.
Die Lage auf den Intensivstationen ist aktuell entspannt: Man sehe derzeit „so gut wie keine Auswirkungen der steigenden Inzidenz“, erklärte Ende Juli die Vereinigung der Intensiv- und Notfallmediziner DIVI. Derzeit werden bundesweit 448 Corona-Patienten intensivmedizinisch betreut, in NRW sind es 129. Auf dem Höhepunkt der Pandemie im vergangenen Winter waren es landesweit 1160.