An Rhein und Ruhr. Trotz steigender Inzidenz gibt es in NRW immer weniger Todesfälle. Chefarzt Thomas Voshaar erklärt, warum die Lage dennoch unübersichtlich ist.
Seit Mitte Februar hat sich die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner fast verdoppelt (Freitag 96,4). Dennoch gibt es positive Nachrichten: In Pflegeheimen gibt es seit den flächendeckenden Impfungen deutlich weniger Corona-Fälle. Auch die Zahl der Verstorbenen ist im Vergleich zu den Weihnachtstagen um rund 90 Prozent zurückgegangen. Doch was bedeutet das für die Infektionslage? Ist es ratsam, weiter auf die Inzidenz zu schauen oder brauchen wir längst neue Kenngrößen?
„Unser Pandemiemanagement war auf zwei Punkte ausgerichtet“, sagt Dr. Thomas Voshaar, Chefarzt der Lungenklinik am Krankenhaus Bethanien in Moers. „Erstens, dass das Gesundheitssystem versorgungsbereit bleibt und zweitens, dass wir Todesfälle in den vulnerablen Gruppen verhindern.“ Da die große Mehrheit der an Covid-19 Verstorbenen laut Voshaar nachweislich über 65 Jahre alt ist, sei es primäres Impfziel der Politik gewesen, diese Risikogruppen priorisiert und möglichst flächendeckend zu impfen.
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„Unter dem vorherrschenden Virus-Wildtyp wäre das wichtigste Ziel erreicht gewesen, wenn wir alle Ü65-Jährigen und die schwer Vorerkrankten geimpft hätten“, sagt Voshaar. „Wenn diese Gruppe komplett durchgeimpft ist, brauchen wir uns um das Pandemiemanagement – etwas überzogen formuliert – nicht mehr zu kümmern.“ Dann hätten Bund und Länder nach Auffassung des Chefarztes über weitreichende Corona-Lockerungen diskutieren können.
Trilling: „Noch lange nicht alle Risikogruppen durchgeimpft“
Auch Mirko Trilling, Virologe an der Uniklinik Essen, verweist auf die Bedeutung des Impffortschritts: „Da schon ein Teil der vulnerablen Gruppen geimpft ist, verschiebt sich das Verhältnis von Infektionsinzidenz und schweren Erkrankungen.“ Soll heißen: Unter 1000 neuen Corona-Fällen gebe es heute vermutlich weniger Patienten, die mit einer schweren Infektion ins Krankenhaus müssen, als vor dem Impfstart. „Trotzdem sind noch lange nicht alle Risikogruppen vollständig durchgeimpft“, gibt der Virologe zu bedenken.
Für den Überblick sei daher die Inzidenz eine wichtige Kennzahl. „Wir müssen ein exponentielles Wachstum vermeiden.“ Schließlich würden auch jüngere Patienten schwer an Covid-19 erkranken, wenn auch seltener.
Voshaar macht auf eine ganz andere Schwierigkeit aufmerksam: „Jetzt kommt eine neue Situation auf uns zu: Bei fast 50 Prozent der Infektionen handelt es sich mittlerweile um die englische Virus-Mutation B1.117.“ Auch die südafrikanische Variante sei bereits in Deutschland nachgewiesen worden. „Wir wissen, dass beide Mutationen ansteckender sind als der Wildtyp“, so Voshaar. Es sei aber noch völlig unklar, ob sie auch häufiger zu schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen führen. „Diese Ungewissheit macht die Lage aktuell so schwierig“, sagt der Chefarzt.
Voshaar: „Müssen uns schon mit nächstem Impfstoff beschäftigen“
Prof. Ulf Dittmer, Leiter der Virologie an der Uniklinik Essen, fordert deshalb in der aktuellen Folge des NRZ-Podcasts „Das Corona-Update für NRW“ eine Debatte über zusätzliche Kenngrößen. Ein Parameter sei zum Beispiel, wie viele Menschen mit Covid-19 neu in Krankenhäusern aufgenommen werden. „Es geht um die neuen Patienten, nicht um die Gesamtzahl der Corona-Fälle in Krankenhäusern“, betont Dittmer. Die Gesamtzahl sei nicht verlässlich, weil darunter auch Infizierte seien, die schon seit Wochen auf der Intensivstation liegen. Die Anzahl der neuen Patienten gebe hingegen Aufschluss darüber, wie viele Infizierte aktuell schwerer erkranken. „Am Ende wird das die Situation in den Krankenhäusern entscheidend beeinflussen.“
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Laut Voshaar zeichne sich aber bereits ein weiteres Problem ab: „Schon jetzt gibt es erste Hinweise darauf, dass bestimmte Mutationen auf dem Weg sind, den Impfschutz zu unterlaufen.“ Der Chefarzt verweist auf eine Studie des New England Journals, wonach Astrazeneca bei der südafrikanischen Variante keine leichten und mittelschweren Infektionen verhindern könne. Was das für die Pandemiebekämpfung bedeute? „Wir müssen uns schon heute mit dem nächsten Impfstoff beschäftigen.“ Die Frage sei nicht, ob neue Mutationen in Zukunft gegen die aktuellen Impfstoffe immun sind, sondern wann.
Voshaar fordert deshalb eine Art „Taskforce“, die sich ausschließlich mit einer Aufgabe beschäftige: „Wie schaffen wir es, mit aller Kraft so schnell wie möglich große Produktionskapazitäten für die nächste Impfkampagne aufzubauen?“ Falls das nicht gelinge, gehe das Impfchaos vermutlich immer wieder von vorne los. „Das Ziel muss sein, vor die Problematik zu kommen.“ Dafür bedürfe es Experten, die weiter vorausplanen. „Die Erkenntnis, dass wir mit diesem Virus und seiner Veränderlichkeit leben müssen, wird inzwischen von niemandem bestritten“, sagt Voshaar.
>>> Überblick: Die Inzidenzzahlen in NRW
Das Robert Koch-Institut (RKI) wies am Freitagmorgen 96,4 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche aus. Am Donnerstag hatte die wichtige Kennziffer bei 92,1 gelegen. Die Gesundheitsämter meldeten 3474 Fälle von Neuinfektionen innerhalb eines Tages und 35 weitere Todesfälle.
Mittlerweile haben 21 Kreise und kreisfreie Städte in NRW bei der Sieben-Tage-Inzidenz die kritische Marke von 100 überschritten. Am höchsten war der Wert im Märkischen Kreis (188,7), gefolgt von Herne (160,4) und Wuppertal (143,3). Unter der Schwelle von 50 lagen nur Bielefeld (45,8) und Höxter (47,8).