Heiligenhaus. Viele Kinder haben Angst vor Hunden, wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Einige Grundschulen haben nun „Hund“ auf dem Stundenplan.
An Linus kommt keiner vorbei. Hochschuss, Flachschuss, Flatterball - Linus hält. „Der ist wie Manuel Neuer, der kommt immer raus“, sagt Nicole Goldau den Kindern aus der 4b, die nacheinander einzeln anlaufen und versuchen, gegen den Hund ein Tor zu erzielen. Aber das wird nichts. Linus, Linus Fußballgott. Aber er ist ja auch ein (Tor)Hütehund.
Die 14 Mädchen und Jungen haben auf der Wiese ihrer Grundschule gerade Spaß, aber darum geht es nicht in erster Linie. Nicole Goldau ist mit ihren beiden Hunden gekommen, um Kindern beizubringen, wie man sich gegenüber Hunden richtig verhält. Und das Torschuss-Training? Der Hund (ist ja wie Manuel Neuer) „kommt immer rausgerannt und springt hoch, dann sehe ich, ob ein Kind noch ängstlich ist“. 32 Kilo kommen auf dich zu - da kann man schon mal zögern, zumal als Kind, das auch nicht schwerer ist.
„Nicht wegrennen, schreien und mit den Händen wackeln“
Nicole Goldau ist heute zum zweiten Mal an der Gerhard-Tersteegen-Grundschule. „Hund“ steht hier auf dem Stundenplan: Seit 2018 lässt sich die heute 48-Jährige von Schulen oder Ganztagsbetreuungen in Heiligenhaus und Umgebung engagieren, um ihr „Hunde-ABC“ bis hin zum „Hunde-Führerschein“ zu vermitteln: einer kleinen Urkunde, die bekommt, wer die Fehler vermeidet und es besser weiß. „Nicht wegrennen, schreien und mit den Händen wackeln, sonst werdet ihr für einen Jagdhund nur interessant“, sagt sie. Und wenigstens sinngemäß: Starr ihm nicht in die Augen, Kleines.
„Ich möchte gerne, dass ihr, wenn ihr wollt, noch mit den Hunden Verstecken spielt“, sagt die gelernte Kinder-Krankenschwester und Gesundheitsökonomin gerade. Sie lenkt Linus und dessen Kollegin Isi ab, während die Kinder sich irgendwo auf dem Gelände entschlossen zusammenkauern.
Gegenüber den hockenden Kindern sind die Hunde plötzlich riesig
Zu sehen sind sie nicht mehr, aber zu riechen, jedenfalls für Hunde; und Linus und Isi, zwei ausgesprochene Sympathieträger übrigens, haben zu Beginn ja alle abgeschnüffelt. Sie finden jede und jeden, und der Lerneffekt ist ähnlich wie beim Torschuss-Training: Gegenüber den hockenden Kindern sind die Hunde plötzlich riesig, kommen angerannt - und tun nichts. Naja, sie nehmen das Leckerli.
Nicole Goldau hatte immer Tiere. Als ihr Sohn so alt wurde, dass andere Kinder zu Besuch kamen, da sah sie, dass „heute vielleicht jedes dritte Kind unsicher auf Hunde reagiert und jedes fünfte mit Angst. Das geht schon Richtung Panikattacken, ich finde das schrecklich.“ Nach ihrer eigenen Beobachtung ist das weit verbreiteter als früher, aber belastbare Zahlen dazu gibt es nicht.
Vier Prozent der Menschen haben eine „klinisch bedeutende Hundephobie“
Nach einer Studie der Universität Mannheim haben vier Prozent der Menschen in Deutschland eine „klinisch bedeutende Hundephobie“. Die Belastung sei um so größer, je mehr Alltägliches vermieden werde wie etwa der Spaziergang, die Busfahrt oder der Besuch bei Freunden, die Hunde halten. Allerdings äußern „weit mehr“ als diese vier Prozent, sie hätten Angst vor Hunden.
In unserer halben 4b - die andere Hälfte hat nachher „Hund“ - kann von Angst keine Rede mehr sein. Natalie und Jason, Fynn, Carlotta, Alex und Sebastian, Alina und die anderen bilden jetzt einen Parcours. Stehen mit breiten Beinen eng hintereinander, damit Easy unten durchschlüpft; berühren sich mit Händen und Füßen etwas über der Wiese, damit Isi darüber springt. Erst ziert sie sich schwanzwedelnd, dann tut sie es. Das Vertrauen ist schon beidseitig.
„Entweder eine Herde Schafe hüten oder als Schulhund arbeiten“
Hundeangst ist vererbbar, weiß die Forschung: Wenn die Eltern sie zeigen, bekommt das Kind sie auch. Dass man selbst einmal gebissen wurde, spielt für die Entwicklung der Angst kaum eine Rolle. Nicole Goldau hat noch zwei weitere Punkte: Menschen, die sich in der Corona-Zeit einen Hund kauften, ihn aber nicht führen können; sowie „ein Stück weit Migrationshintergrund“ bei Menschen aus Ländern, in denen Rudel von Straßenhunden herumlaufen.
Die achtjährige Isi war ja selbst so einer. Tierschützer brachten sie mit aus Griechenland, devot war sie, verängstigt, inzwischen ist sie wieder selbstbewusst. Und Linus, der durchmischte Hütehund? „Die müssen viel arbeiten“, sagt seine Hundeführerin: „Entweder eine Herde Schafe hüten oder als Schulhund arbeiten.“
Und dann sind die Hunde-Stunden auch schon wieder vorbei. Im Raum der Ganztagsbetreuung wartet die andere halbe Klasse auf die Auffrischung der Theorie, während die Kinder draußen Abschied nehmen. „Habt ihr’s alle überlebt?“, fragt Nicole Goldau. 14 helle Stimmen, fröhlich: „Jaaaa!“ Ein Mädchen leise zu Isi: „Ich glaube, wir sehen uns noch mal wieder.“