Wer Bulgarien so richtig kennenlernen will, abseits von den Badenstränden, sollte einen Abstecher zu Oma Radka nach Silnik machen: Die rüstige Seniorin zeigt jedem Touristen auf Wunsch Solniks Traditionen und bulgarische Lebensart - ohne ein Küsschen auf die Wange kommt an ihr keiner vorbei.
Nein, ohne Küsschen links, Küsschen rechts geht es nicht. Die Hand wird gedrückt, die Wange getätschelt. Warme Augen strahlen einen an, Worte brauchen nicht zu übersetzen, was der Blick erzählt: Es soll einem an nichts fehlen in den kommenden Stunden. Herzlich willkommen in Bulgarien. Herzlich Willkommen bei Oma Radka.
Natürlich ist es kein Privileg, so in Solnik empfangen zu werden. Wie ein verloren geglaubter Lieblings-Sohn oder -Enkel begrüßt zu werden – das kann jeder haben. Aber bei Oma Radka, einer 76 Jahre alten, quietschfidelen Dame, vergisst man schnell, dass man eben nicht als Backpacker unterwegs ist, freudig erregt auf Einheimische getroffen zu sein, die einen durchfüttern. Einen Ausflug nach Solnik zur Oma kann buchen, wer einen Tag Pause braucht vom Bade-Gold- oder Bade-Sonnenstrand.
Mittanzen und mitsinken anstatt zurücklehnen
Wer ein bisschen Bulgarien kennenlernen, eintauchen will in Bräuche, Folklore und Kulinarik des Balkanstaates. Oma Radka bringt es einem bei und zwar ganz praxisnah. Nix mit schön zurücklehnen und nur zuschauen: Im Dorfkreis, inmitten weiterer rüstiger älterer Damen und Herren, wird mitgetanzt, mitmusiziert und sogar einer Hochzeit beigewohnt. „Und möge sich das Lächeln, mit dem unsere Gäste gekommen sind, verdoppelt haben, wenn sie wieder raus in die Welt gehen.“ Was für eine Tischansprache! Dann wird geschmaust: Rustikal, lecker. Bei Oma schmeckt’s eben am besten.
Solnik scheint in der Zeit verloren gegangen zu sein. Ein 250-Seelen-Kaff im Hinterland der Schwarzmeer-Küste, zwei einfache Pferdekutschen, Häuser bröckeln vor sich hin und wenn man rein ins Dorf fährt, ist man fast schon wieder draußen. Omas Reich sticht heraus: Blank verputzte Fassade, kühle große Räume, ein großer Garten und ein Hinterhof, mit vielen reich gedeckten Tischen für die Gäste.
Das war nicht immer so. „Ich habe es nicht in mir drin gehört“, erzählt Oma Radka später. Soll heißen: Ihr Weg, Touristen zu bemuttern – oder besser: zu „beoma-ern“ – und einzuführen in bulgarische Traditionen, sei nicht vorgezeichnet gewesen. 1994 war die Aufbruchstimmung und Euphorie nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Welt in Osteuropa einer ernüchternden Tristesse gewichen.
Die Touristen kommen zu Oma Radka
Doch ein Tag in diesem Jahr sollte alles verändern. Und wie das meist so ist: Solche Tage kündigen sich nicht an. Da tauchte auf einmal ein Kleinbus auf, mit acht Touristen, die sich das Landleben zeigen lassen wollten. „Ein Bekannter meines Mannes hatte diese Leute mitgebracht“, erzählt Omi. Und diese Leute gaben ihren kleinen Enkeln am Abend ein bisschen Geld, „mit dem sie sich eine Woche lang Eis im Supermarkt kaufen konnten“. Eine fantastische Geschichte, vor allem für die Enkel, die ihrer Oma also in den Ohren lagen, sie solle doch weiter fremde Menschen bekochen.
Und die Touristen kommen tatsächlich. Bis 2007 läuft alles über Mund-zu-Mund-Propaganda, dann geht der Sohn in Rente und beginnt, die Geschäftsidee zu verfeinern und weitere Kontakte zu knüpfen. Die Familie ist schon eingebunden, nun wird Oma Radka praktisch zur Arbeitgeberin für das ganze Dorf. Es war nicht vorherbestimmt, „aber wenn sich einem eine Chance bietet, muss man sie ergreifen“, meint Oma Radka. Das hat sie getan. Dieser Tag im Jahr 1994 hat ihr Leben und das eines ganzen Dorfes verändert. Im Haus finden sich sogar zwei Flachbild-Fernseher. Es ist eine bulgarische Erfolgsgeschichte, die einem tollen, folkloristischen Nachmittag noch mehr Authentizität verleiht.
Verkehrsberuhigt, für freilaufende Kinder
Es geht zurück zu Gold- oder Sonnenstrand. Zur trubeligen Partymeile oder zum entspannten Familienstrand, ganz wie man urlauben will. Oder zurück nach Albena: eine – zugegeben – etwas touristische Urlauber-Siedlung nördlich von Varna. Erdacht und erbaut noch in sozialistischer Zeit. Verkehrsberuhigt, für freilaufende Kinder. Für alle, die mehr Ostalgie brauchen. In jedem Fall geht es zurück zu gepflegten Küsten, die reichlich Erholung für gestresste Seelen bieten, und deren feiner Sand flach und weit ins Schwarze Meer führt.
Ohne Küsschen links, Küsschen rechts funktioniert natürlich auch die Verabschiedung nicht. „Friede den Menschen auf der Welt, und Gesundheit“, gibt Oma Radka mit auf den Weg – und tätschelt die Wange, drückt die Hand. Auf Wiedersehen, Oma Radka.