Patagonien, das ist ein windumtostes Nichts am Südzipfel Südamerikas. Die Region, die zum Teil in Chile, zu dem größten Teil aber in Argentinien liegt, bietet keine Sehenswürdigkeiten im herkömmlichen Sinne, dafür aber Weite und Ruhe. Ein Nichts, in dem man das Gefühl für Raum und Zeit verliert.

Als Schüler hatte ich immer davon geträumt, einmal nach Patagonien zu reisen. Es muss in der zehnten oder elften Klasse gewesen sein, als unsere Erdkundelehrerin das erste Mal davon erzählte. Dieses windumtoste Nichts am Südzipfel Südamerikas, sagte die Lehrerin, sei zwei Mal so groß wie Deutschland und habe nicht einmal so viele Einwohner wie Hamburg.

Das war der Moment, an dem ich mich mit dem Patagonien-Virus infizierte. Ich wollte ans andere Ende der Welt reisen, an einen Ort, an dem es nichts gab außer dem immerwährenden Wind.

Wie ein Aquarell

Und jetzt ist es soweit. Ich will Patagonien einmal von Nord nach Süd durchqueren. In San Martín de los Andes nahe der chilenischen Grenze besteige ich den Bus. 30 Stunden, sagt der Mann am Ticketschalter, würde die Fahrt ins chilenische Punta Arenas an der Magellanstraße dauern. Es hat etwas Unwirkliches, aus der üppigen argentinischen Berglandschaft in das karge patagonische Flachland zu kommen. Hinter Bariloche fällt die Straße langsam ab, bis sie sich ganz in die Ebene ergießt. Honigfarben strahlen die Weiden.

Wie ein Aquarell liegt das goldgelbe Land da. Die letzte Ansiedlung vor der baumlosen patagonischen Steppe heißt Esquel. Dahinter führt die Straße mehr als 500 Kilometer geradeaus. Stunde um Stunde rollt der Bus dahin durch das Nichts. Es ist ein maßloses Nichts, in dem man schnell das Gefühl für Raum und Zeit verliert. Keine Menschenseele, kein Tier, ja noch nicht mal ein Baum weit und breit. Nur ganz selten bleibt der Blick an einem Strauch hängen. Stundenlang jagt man dem Horizont entgegen, ohne ihn jemals zu erreichen. Der französische Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle schrieb deswegen einst: „Patagonien ruft eine Art von horizontaler Höhenangst hervor.“

Eine Straße vom Nichts durchs Nichts ins Nichts 

Offiziell erstreckt sich Patagonien vom Río Colorado im Norden über mehr als 2000 Kilometer bis zum Kap Hoorn im äußersten Süden des Kontinents. Häufig durchschneidet die Straße das Gebiet einer Estancia. Für fünf, zehn oder 20 Kilometer fährt man dann zwischen zwei Zaunreihen entlang, wohl wissend, dass dies alles zu einem einzigen Anwesen gehört. Ausschließlich Schafe sind es, die einem auf den riesigen Viehfarmen begegnen. Ende des 18. Jahrhunderts brachten schottische und walisische Einwanderer sie mit nach Argentinien. Seitdem ist Patagonien auch ihr Land. Beinahe die gesamte Wirtschaft in dieser abgelegenen Region beruht auf Schafzucht. Zwischen 1930 und 1970, der Boomzeit der Schafwirtschaft, weideten viele Millionen Tiere auf Hunderten von Estancias. Dann begann der Niedergang. Seit dem Verfall der Wollpreise wurden viele Estancias verkauft.

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Die Straße von Esquel an die Atlantikküste ist wie so viele patagonische Straßen: vom Nichts durchs Nichts ins Nichts. Bis plötzlich das Meer auftaucht. Zuerst scheint es wie eine Fata Morgana, wie sich der Horizont langsam blau färbt. Dann schälen sich aus dem pastellfarbenen Hintergrund die ersten Häuser von Rawson. Beinahe 35 Stunden ist der Bus mittlerweile unterwegs. Bei Río Gallegos überquert er die chilenische Grenze, wenig später rollen wir in Punta Arenas ein.

Keine Sehenswürdigkeiten im eigentlichen Sinne

Bis 1914, dem Jahr, in dem der Panamakanal eröffnet wurde, führte der kürzeste Seeweg von New York nach San Francisco genau hier vorbei. Hunderte Schiffe gingen damals in der rauen See unter. Heute ist der Verkehr auf der Magellanstraße nicht mehr ganz so stark. Ungemütlich ist es an diesem Tag trotzdem. Der Wind bläst aus vollen Rohren. Er weht aus der Antarktis heran, türmt die Wellen auf dem Wasser auf und treibt in atemberaubender Geschwindigkeit Wolken vor sich her. Wenn der Wind in Punta Arenas zum Angriff bläst, dann bläst er Schafe weg, lässt Bäume quer wachsen und wirft manchmal sogar Menschen aus dem Stand.

Patagonien hat keine Sehenswürdigkeiten im eigentlichen Sinne. Und es hat sie doch: den Nationalpark Torres del Paine mit seinen nadelartigen Felsspitzen aus Granit, eine Tagesreise von Punta Arenas entfernt, und den Perito Moreno-Gletscher im benachbarten Argentinien, dessen mächtige Zunge sich mehr als 30 Kilometer in den Lago Argentino ergießt. Bis heute ist er einer der wenigen der Erde, der noch wächst. Über viele Jahre schiebt er seine Nase in den Lago Argentino, bis er auf der gegenüberliegenden Seite auf den Felsen mit riesigem Tosen zerschellt. Ein aberwitziges Schauspiel, das nur alle Jubeljahre stattfindet.

Wie zerstoßenes Eis in einem Cocktailglas

Der Moreno-Gletscher ist die letzte Etappe, bevor mich der Flieger zurück nach Buenos Aires bringt. Es ist eine kleine Mutprobe, in Punta Arenas in ein Flugzeug zu steigen. Bei den paar Schritten vom Flughafengebäude über das Rollfeld bläst einen der Wind fast aus den Schuhen. Die ersten Minuten in der Luft gleichen einem Rodeoritt, dann beruhigt sich der Flug. Der Himmel ist jetzt glasklar. Unter uns zeichnet sich der Lago Argentino ab.

Die Eisberge im pistazienfarbenen Wasser sehen von hier oben aus wie zerstoßenes Eis in einem Cocktailglas. Sekunden später schiebt sich der Moreno-Gletscher ins Blickfeld. Der Pilot dreht eine Extrarunde, grell leuchtend zieht erneut die hellblaue Zunge des Perito Moreno am Fenster vorbei, leckt für Sekunden am Lago Argentino. Dann dreht der Flieger in weitem Bogen in Richtung Norden ab.