Paris. . Paris mit verbundenen Augen zu erkunden, ist eine ganz eigene Erfahrung. Auf einmal ist das Vogelgezwitscher viel deutlicher, die Gerüche und Sinneseindrücke wichtiger. Die Strecke der Tour ist streng geheim und sie ist ein Erlebnis!
Es ist auf einmal stockfinster. Mitten am Tag. Beinahe unheimlich finster. Die pechschwarze Stoffbinde, die Martial Chazallon mir behutsam um die Augen legt, fühlt sich angenehm weich an. Der Choreograph, Mitinitiator des Projekts "Paris - die Augen verschlossen", könnte mir jetzt Gottschalks Wetten-Dass-Faust entgegenschleudern, ich würde nicht einen Moment zucken.
Zwei wichtige Verhaltensregeln gibt's mit auf den Weg: Die erste: "Bitte, keine Fotos." Regel zwei: Die Route bleibt geheim. Dann stellt er mir meinen Führer vor: Serge. "Bonjour", sagt der freundliche Mann mit der heiseren, rauchigen Stimme, und reicht mir seinen Arm. Wie Serge mir später erzählt, ist er 51, städtischer Mitarbeiter, ehrenamtlich im Projekt tätig, in Portugal geboren und in Paris aufgewachsen.
Die nächsten zweieinhalb Stunden werde ich mich an seine Ellbogen heften. Wenn's brenzlig wird, soll ich auch noch die andere Hand auf seine Schulter legen. Zur Sicherheit. Dunkelrestaurants gibt's schon seit Längerem, jetzt lockt der "Blindwalk".
Jede Stufe eine Erleichterung
Stundenlang ohne Augenlicht durch die taghelle Metropole laufen, blind auf Zeit zu sein - was macht das wohl mit einem? Schon nach den ersten zaghaften Schritten spüre ich: Serge und ich sind ein ziemlich ungleiches Paar. Er, der Sehende, ich der Blinde. Ohne ihn bin ich in diesem Moloch hoffnungslos verloren.
Unser "Erlebnisraum" beginnt auf der Place Hannah Arendt nahe dem "Parc des Buttes Chaumont" - einst ein Schutthaufen, den Napoleon III. in eine prachtvolle Gartenlandschaft mit Seen, Grotten, Felsen, Wasserfällen und lauter Treppen verwandeln ließ. "Vorsichtig, Stufe runter", sagt Serge. Meine rechte Schuhsohle tastet sich bedächtig, die Kante kratzend, vor. Und findet endlich Halt. Wahnsinn! Jede Stufe eine Erleichterung. Serge zählt weiter: ". . . deux, trois, quatre . . . ." Bei Neun sind wir endlich unten.
So langsam läuft's sich gut. Vögel sehen ist eine Sache, sie hören eine andere. Ihr jauchzendes Gezwitscher verdichtet sich zu einem ohrenbetäubenden Konzert. Auf dem Trottoir schlägt mir der Duftmix der Großstadt entgegen: hier Leckeres aus Bäckereien und Restaurants, dort Autoabgase und eine süße Parfümwolke. "Die Frau war hübsch", sagt Serge.
Dieselnde Lastwagen, hupende Autos und fluchende Fußgänger liefern dazu die Geräuschkulisse. In einer Altbauwohnung im ersten Stock begrüßt mich Isabelle, eine Künstlerin mit warmer Stimme. Sie sagt: "Ich reise gern" und reicht mir fremdartige Musikinstrumente - lauter Mitbringsel aus Bamako (Mali) und Goa (Indien). Ich fühle und beginne andächtig zu spielen. Der "Tingsha", einer tibetanischen Handzimbel entlocke ich einen hellen eindringlichen Klang. Cool.
"Ich werde immer sicherer"
Die nächste Etappe führt uns in einen Raum großer Stille. Schon der unverwechselbare Geruch aus Kerzen und Weihrauch verrät: eine Kirche. Beim Rausgehen passiert mir ein Missgeschick. Meine suchende Patschhand landet im Weihwasserbecken. Hoffentlich hat's der liebe Herrgott nicht gesehen! Ich werde immer sicherer. Geschwind geht's über Brücken und Bordsteine - und durch eine Bibliothek. Im Regal ertaste ich ein Buch, aus dem mir Serge ein paar Zeilen vorliest. Ein Kinderbuch, das von einer Mama, ihrem Neugeborenen und der eifersüchtigen Katze handelt.
Blindsein auf Zeit empfinde ich jetzt als kurzweilig. Eine abenteuerliche Horizonterweiterung aus Happening und Spektakel. Ich sehe Paris ohne zu sehen und spüre Euphorie. Die halbe Zeit ist um, da setzt mich Serge auf einen Stuhl. Neben Christelle. Ich reiche ihr meine Hand zum Gruß, doch Christelle findet sie nicht. "Ich bin blind", sagt die zierliche Stimme. Und macht mich für einen Moment sprachlos. "Schon immer?", frage ich unsicher. "Seit ich zwei bin", antwortet die 25-Jährige. Ein heimtückischer Krebs habe ihr das Augenlicht geraubt.
Sie nimmt mich an die Hand und ist jetzt meine Führerin. Wie sonderbar: zwei Nicht-Sehende unterwegs. Ich höre, wie ihr Blindenstock den Weg schleift, und fühle mich wunderbar sicher an ihrer Seite. In einem kleinen Park lässt Christelle mich Bäume fühlen: dünne und dicke mit furchigen Rinden, Tannenzweige und Blätter. Hörbücher mag sie überhaupt nicht, erzählt sie mir, sie lese lieber selber - dank ihres Computers mit Braillezeile sogar sehr viel. Ich frage sie, ob sie trotz des Handicaps ein zufriedener Mensch ist. "Ja, das bin ich", erwidert sie mit fester Stimme. Trotzdem lässt mich Christelle verstört zurück. Und demütig.
Denn mir dämmert: In einer Stunde werden sie mir die Binde abnehmen, aber sie wird in ihrer finsteren Welt verbleiben und niemals einen Regenbogen sehen. In der letzten Station am Parc de la Villette bittet Olivier mich flüsternd, Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Dann führt er mich auf die Tanzfläche. So wie einst beim kindlichen Blinde-Kuh-Spiel geht's mal schnell, mal langsam, mal links, mal rechts herum - bis ich keuchend und ausgelassen anfange zu lachen. Vor Glück.