Nord-Pas de Calais. Über Nord-Pas de Calais erstrecken sich großflächige Soldatenfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg. Das Geflecht der „Chemins de mémoire 14-18“, der „Wege der Erinnerung“, prägt mit seinen parkähnlichen Anlagen, Gedächtnishallen und Nationaldenkmälern das Land zwischen Lille, Arras und Cambrai.
Als Schlachtfeldtourismus möchte Edouard es nicht bezeichnen. Das Wort wirke wenig würdigend. Sein Atem verrät die Anstrengung des Aufstiegs, und das, obwohl die Landschaft des Nord-Pas de Calais nur hügelig ist. An einer Einfriedung bleibt Edouard stehen und verharrt kurzzeitig in Schweigen. Vor ihm erstreckt sich so weit das Auge reicht ein Gräberfeld. Helle Betonkreuze stehen hier auf sattem grünen Rasen. Uniformierte patrouillieren durch die Reihen.
Edouard beobachtet die Gesichter der Besucher. Er kennt die Wirkung und er kennt die Art Versteinerung, mit der urplötzlich jegliche Mimik einfriert. Der 30-Jährige hat schon viele Gruppen begleitet und ihnen auch die dunklen Seiten der nördlichsten der französischen Regionen vermittelt. Denn das Nord-Pas de Calais wartet eigentlich mit Lichtpunkten auf: Von seinen Ufern lassen sich die englischen Kreidefelsen erspähen, im Landesinneren kann man die sprachlichen Eigenheiten der Einwohner erleben. In der Stadt Lens will gar der Louvre zukünftig seine Tore öffnen.
„Wege der Erinnerung“
Aber dass sich in dieser Gegend großflächige Soldatenfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg befinden, ahnen die wenigsten. Das Geflecht der „Chemins de mémoire 14-18“, der „Wege der Erinnerung“, prägt mit seinen parkähnlichen Anlagen, Gedächtnishallen und Nationaldenkmälern das Land zwischen Lille, Arras und Cambrai.
Immer wieder weist Edouard in die verschiedenen Himmelsrichtungen. Hinter ihm liegen 42 000 Mann begraben. Der Nationalfriedhof Notre-Dame-de-Lorette bei Ablain-Saint-Nazaire erstreckt sich an der Stelle, wo von Oktober 1914 bis September 1915 blutige Kämpfe stattfanden. Ehrenwachen stehen an den Pforten. Hoch über allen Kreuzen, Häuptern und Baumkronen erhebt sich der Laternenturm, das weithin sichtbare Wahrzeichen dieses größten französischen Soldatenfriedhofs. Er nenne ihn „l’index“, den mahnenden Zeigefinger, sagt Edouard und schmunzelt.
Denkmal für mehr als 11 000 vermissten Kanadier
Auch heute lassen sich von der einst strategisch wichtigen Höhe sowohl das nördlich angrenzende Kohlerevier von Lens als auch die südlich liegende Ebene von Arras bestens einsehen.
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Beinahe einem Spiegel gleich leuchtet das kanadische Nationaldenkmal. Es ist dem Laternenturm gegenüber gelegen. Zwei mit mehreren überlebensgroßen Statuen versehene Türme erinnern an die mehr als 11 000 vermissten Kanadier, die 1917 hier auf der Vimy-Höhe zum ersten Mal in einem vom britischen Expeditionsheer unabhängigen Armeeverband operierten. „Man kann sagen“, ergänzt Edouard, „dass das moderne Kanada in den Schützengräben von Vimy geboren wurde.“
Vernarbte Erde, unheimliche Nähe
Das Erdreich des angrenzenden Landschaftsparks ist vernarbt. Die einstigen Bombentrichter und Laufgräben bilden grüne Mulden. Edouard ist verschwunden. Die Gruppe bleibt allein in einem der ehemaligen vorgelagerten Postenstände. Plötzlich, keine 25 Meter davon entfernt, taucht Edouards Kopf hinter „gegnerischen“ Sandsackwällen und Stacheldrahtverhauen wieder auf. Er ruft über das unebene Niemandsland hinweg. Dass seine Worte deutlich zu verstehen sind, zehrt an den Nerven: „Es ist so unheimlich nah“, flüstert es in der Gruppe.
„So sehr die Anzahl der Friedhöfe in ihrer räumlichen Verdichtung berührt, beinahe erdrückt, so sehr berühren die unterschiedlichen Bilder ihrer architektonischen Gestaltung“, bemerkt Edouard und fügt hinzu: „Pathos und Trauer, Gloria und Schmerz gehen Hand in Hand.“
44 000 Namen auf nahezu 10 000 Kreuzen
Der größte deutsche Soldatenfriedhof in der Region – sogar ganz Frankreichs – La Maison Blanche bei Neuville-Saint-Vaast, erinnert mit über 44 000 Namen auf nahezu 10 000 Kreuzen an den Krieg. Sie sind schlicht und in Anlehnung an den einstigen, wetterabweisenden Teeranstrich äußerst dunkel gehalten. Die gesamte Anlage strahlt große Ruhe aus.
Im Gegensatz dazu glänzen die hellen Steine der vielen kleinen, weit verstreuten Friedhöfe der Commonwealth-Staaten beinahe zu jeder Tageslichtzeit. Bunte Blumen verwandeln die Gräberfelder in Parks, und – will man sarkastisch sein: nur die Pietät verbietet es, auf dem Rasen Golf zu spielen.
„Darüber hinaus fordern die Grabsteine der Commonwealth-Staaten die Aufmerksamkeit des Besuchers ein“, sagt Edouard. Sie hätten einiges zu erzählen. Neben Namenszügen, Regimentsnummern oder Religionssymbolen konnten Hinterbliebene auf ihnen Verse, Psalme oder persönliche Wünsche anbringen lassen.
Mahnende Verse inüberdimensionalen Lettern
Für die am 1. Oktober 2011 eröffnete Wilfred-Owen-Begegnungsstätte in Ors, nahe Cambrai, ist die Idee der Verse aufgegriffen worden. Die Wände des umgebauten Forsthauses, in dessen Kellergewölbe sich Owen, der heute als einer der wichtigsten englischen Kriegsdichter und Zeitzeugen gilt, in den letzten Kriegstagen 1918 verschanzte und in dessen Nähe er schließlich den Tod fand, zieren in überdimensionalen Lettern einige seiner mahnenden Zeilen.
Mit Owens „but they are troops who fade, not flowers“ auf den Lippen verteilt Edouard schließlich die Samen für Blüten in den Farben der französischen Trikolore: Die blaue Kornblume steht für die Toten Frankreichs, das weiß blühende Vergissmeinnicht für die Toten Deutschlands und der rote Mohn für die Gefallenen Englands und seiner Verbündeten. Denn die Tragweite der „Chemins de mémoire“ endet nicht an den Grenzen des Nord-Pas de Calais.