Ein weltweites Ranking von nachhaltigen Ländern und Regionen gibt es nicht. Dennoch verankern einige Destinationen natürlichen Tourismus.

Aufs Watt hören: Juist

Tief einatmen. Der Wind weht kräftig. Das Rascheln des Strandhafers auf den Dünen wird vom Rauschen der Wellen übertönt. Nach dem Strandspaziergang verweilt man vor dem Kamin mit einer Kanne Ostfriesentee. Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder per Pferdebus geht die Reise danach weiter. Die ostfriesische Insel Juist ist nämlich eine Klimainsel. Wohl bedacht. Juist, die zweite Insel von links in der ostfriesischen Inselkette, ist schon immer den Naturgewalten ausgesetzt gewesen. Sturmfluten seien häufiger geworden, sagt Thomas Vodde vom Tourismusmarketing. Künstliche Dünen mussten zwar schon angelegt werden, doch die Gemeinde beschloss mehr Verantwortung zu übernehmen und erklärte sich 2010 zur Klimainsel.

2030 möchte sie klimaneutral sein. In von der Gemeinde kostenfrei zur Verfügung gestellten Energieberatungen lernen Gaststätten und Tourismusbetriebe, wie ihr individueller CO2-Fußabdruck aussieht. Bei einem Energiespartag im Juister Rathaus wurden Schwachstellen behoben. Einmal in der Woche ist Veggie-Tag. Urkunde, Aufkleber und Logo sorgen bei allen, die bei den Aktionen mitmachen, für eine öffentlichkeitswirksame Wahrnehmung. Und für einen Wettbewerbsvorteil – vor allem bei den Zweiturlauben, sagt Thomas Vodde. Denn Reisende würden vor allem beim Zweit- oder Dritturlaub mit gutem Gewissen dem Alltag entfliehen wollen, schon der erste Urlaub hat ja das Klima belastet.

Juists Umsetzungen sind ehrlich und hängen die Messlatte in der Branche höher. So wurde die Insel auch von TourCert, einem Zertifizierungssystem für nachhaltigen Tourismus, ausgezeichnet. Bei näherem Hinsehen wird aber klar: Juist ist mit circa 1600 Einwohnern und bis zu 10.000 Gästen in der Hochsaison immer noch überschaubar. Eine größere Stadt hat es da schon schwerer, die Bevölkerung individuell zu mobilisieren und vom nachhaltigen Tourismus zu überzeugen. Umso erfreulicher ist es, dass Celle es versucht.

Die frühere Residenzstadt mit Charme und Haltung: Celle

Zwischen Schloss und Lüneburger Heide erstrahlt der Fachwerkglanz der Altstadt. Einige der ältesten Häuser Niedersachsens stehen hier. Celle ist eine Stadt, in der die Lokale vorne Gärten und hinten grüne Höfe haben. Celle ist naturnah. Der Heidschnuckenweg ist der Wandertraum des Nordens und verbindet auf 223 Kilometern die Stadt mit Hamburg. Deswegen hört man Celles Tourismusbüro sagen: „Die kulturelle Identität, Regionalität, die Landschaft und Natur sind unsere wichtigsten Ressourcen.“ Konkret heißt dies, dass die Celler Badelandschaft Strom und Wärme ressourcenschonend nutzt, ein eigenes Blockheizkraftwerk versorgt sie mit Energie. Das Tourismusbüro in Celle veränderte betriebsinterne Strukturen, man wisse um die Vorbildfunktion, erklärt Khai Nhon Behre, Projektleiter Nachhaltigkeit der Stadt. Das bedeutet zum Beispiel: Öffentlicher Nahverkehr statt Pkw für die Mitarbeiter, Nutzung von Ökostrom, Mehrweggeschirr und verrottbarem Material bei Veranstaltungen. Lokale Produkte werden gefördert. All das führte, genauso wie auf Juist, zur TourCert-Zertifizierung. Im Juni 2017 schaffte es Celle als einzige Stadt dann auch im Bundeswettbewerb Nachhaltige Tourismusdestinationen 2016/17 unter die fünf Finalisten.

Es waren insbesondere der Fokus auf die regionale Küche und die Fähigkeit, das Thema Nachhaltigkeit strategisch voranzubringen, was die Jury an Celle überzeugte, erklärt Dirk Dunkelberg vom Deutschen Tourismusverband (DTV). Nachhaltigkeit in einer Region zu etablieren funktioniere dann sehr gut, wenn man ein Team bilde und dadurch eine Dynamik entstehe. „Das ist in Celle gelungen“, ergänzt er.

Celle hatte Glück, dass sich so viele Leistungsträger aus Hotellerie und Gastronomie gefunden haben, die interessiert waren, sanften Tourismus weiter voranzutreiben. Doch dahinter steckt auch Arbeit. Die Sensibilisierung der Gäste, der Betriebe und Leistungsträger hält noch an. Zeit und Geld seien große Hemmschwellen bei der Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie, stellt Dunkelberg fest. In so manchen Gegenden weiß man aber gar nicht, wie viel man schon in diesem Bereich tut. Gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium entwickelte der deutsche Tourismusverband einen Praxisleitfaden, von dessen 1400 weltweiten Kriterien 40 nationale als Orientierung dienen. Die Nordeifel ist vor allem beim Schutz von Natur und Umwelt weit vorne.

„Nah dran. Weit weg.“ Die Nordeifel

Sie liegt vor der Haustür der großen Städte am Rhein und ist Heimat des einzigen nordrhein-westfälischen Nationalparks sowie der Naturparks Rheinland und Nordeifel. Ausgedehnte Wälder, herrliche Blicke und eine wunderschöne Mittelgebirgslandschaft entspannen. Die Nordeifel ist mit ihrem Nationalpark Eifel also naturgegeben nah dran am Thema. Das macht es einfach, Nachhaltigkeit in den Vordergrund zu stellen? Nicht unbedingt. Patrick Schmidder, stellvertretender Geschäftsführer der Nordeifel Tourismus GmbH, erklärt, dass Interessenkonflikte dem sanften Tourismus entgegenstehen. Auch stellt jeder Urlaub alleine durch Anreise und Übernachtung eine Beeinträchtigung der Umwelt dar – der Energie- und Wasserverbrauch im Urlaub übersteigt den der eigenen vier Wände deutlich. Dennoch: Die Eifeler Tourismusbehörde tut einiges dafür, dass den Gästen ein klimafreundlicher Aufenthalt so einfach wie möglich gemacht wird. „Es geht im Wesentlichen darum, ein Impulsgeber in die Region hinein zu sein, alle zu aktivieren und zu beteiligen“, erklärt Patrick Schmidder, der sich nur über den Mangel an engagiertem Nachwuchs Sorgen macht.

Momentan dürfen sich 37 Unterkunfts- und Gastronomiebetriebe in der Nordeifel Nationalparkgastgeber nennen. Sie müssen für diese Auszeichnung regionale Produkte verwenden, ökologische Umweltkriterien einhalten und die GästeCard aushändigen, mit der Touristen den öffentlichen Nahverkehr kostenlos nutzen können.

Weitere Idee für die Eifel

Eine weitere Idee: Für das Eifel-Trekking wurden Naturlagerplätze geschaffen. Das sind einfache Holzplateaus mit Komposttoiletten. Wanderer erhalten Tourenvorschläge und eine genaue Wegbeschreibung zu den Orten, an denen sie übernachten können. Das angeleitete Wandern macht es einfacher, sich für einen solchen Urlaub auf eigene Faust zu entscheiden. Beschilderung und Wegqualität lassen hier auch Fahrradfahrer gern in die Pedale treten. Zusätzlich zahlt das Projekt „Eifel barrierefrei“ mit Führungen in Gebärdensprache, Natur-Erlebnisräumen mit Blinden-Leitsystem und vielem mehr auf das Nachhaltigkeitskonto ein. Denn Tourismus ist auch dann nachhaltig, wenn er inklusiv für alle ist. Die Verantwortlichen schaffen durch ihre kreativen Angebote auch hier eine naturnahe wirtschaftliche Entwicklung.

Ganz klar: Nachhaltiger Tourismus in Deutschland ist nicht mehr beispiellos. „Vor allem in letzter Zeit ist eine relativ große Dynamik entstanden“, betont Petra Thomas, Geschäftsführerin vom Forum Anders Reisen. Seit diesem Jahr hat die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) Nachhaltigkeit ausdrücklich auf ihrer Internetseite als offiziellen Bestandteil und Markenkern in den deutschen Tourismus eingegliedert. Das Bewusstsein für die Natur im Land ist nicht zuletzt durch eine politische Auseinandersetzung weiter verbreitet als in anderen Regionen der Welt: Der Begriff Klima steht auf der Agenda. Norwegen ist sogar einen Schritt weiter – und hat die Natur schon im Slogan. Und es gibt noch ein Zugpferd in Europa: Slowenien wurde 2016 von der Non-Profit Organisation Green Destinations zur weltweit ersten grünen Destination gekürt. 96 Prozent der Nachhaltigkeitskriterien erfüllte das Land.

Ein Land, in dem Präsidenten Veganer sind: Slowenien

Janez Drnovšek, von 2002 bis 2007 Staatspräsident von Slowenien, ist Veganer. Mit Begeisterung sprach sich der Politiker öffentlich für ein soziales Gewissen aus. Mit Begeisterung scheint auch der Rest des Landes ökologisch und nachhaltig zu sein. Als drittwaldreichster Staat Europas mit vielen Seen, Flüssen und einer herausragenden Bergwelt hat man schließlich einiges zu schützen.

Slowenien geht den Schutz seines kulturellen Erbes und seiner Naturschätze strategisch und umfassend an. „Wir haben uns bewusst gegen Massentourismus entschieden“, sagt Majda Rozina Dolenc, Direktorin des Slowenischen Fremdenverkehrsamts. Es ist vor allem die Ausrichtung der Stadt- und Landplanung sowie der Mobilität, die herausragt. Llubljana ist Sloweniens berühmtestes Beispiel: Auf vielen Straßen dürfen keine Autos fahren. Die slowenische Kapitale wurde 2016 zu Europas grünster Stadt gewählt. Ein Nationalprogramm, Slovenia Green, zertifiziert weitere Regionen. Grüne Energie und Abwasserbehandlung sind ein Muss. Zusätzlich bewahrt jede Gegend das, was sie einzigartig macht. Das kann die Kultur, aber auch die Landschaft sein. Oder beides. Eben solche Merkmale, die auch dafür sorgen, dass Urlauber positive Erinnerungen an ihre Reise haben und sich wohlfühlen.

Ein Grasbüschel als Orientierung: Norwegen

„Norway. Powered by Nature“ ist das Credo in Norwegen. Und das sei mehr als ein Slogan, betont Bente Holm von Innovation Norway: „Wenn es unvermeidlich ist, dass man sich über kurz oder lang mit Nachhaltigkeit beschäftigt – dann kann man es ja auch sofort machen.“

Neben der Ökologie ist besonders die Volljahresbeschäftigung im Tourismus ein Ziel Norwegens. Und dann gibt es noch das Grasbüschel. Kein echtes. Sondern eine relativ einfache Grafik. Alle Regionen und Tourismus-Unternehmen in Norwegen können dieses Symbol bekommen – aber nur dann, wenn ihre Umweltmaßnahmen noch weiter gehen, als es das norwegische Gesetz verlangt. Im Ort Røros zum Beispiel, einem ehemaligen Bergwerksdorf, sind die meisten Dächer begrünt, man setzt auf lokale Einkaufkultur, und Abfall wird für die Energiegewinnung benutzt. Insgesamt 18 Gegenden im Land haben schon ihr Grasbüschel bekommen, acht weitere sollen bis Ende 2017 folgen – die See fehlt allerdings noch.

Zukünftig wird es ein Problem geben. Norwegen wird zunehmend ein Reiseland, nicht nur für Kreuzfahrer. Die Anzahl der Übernachtungen ausländischer Gäste stieg 2016 gegenüber dem Vorjahr um zehn Prozent. Aus Deutschland waren es sogar 16 Prozent mehr Gäste. Doch Massentourismus ist zumeist nicht nachhaltig. Norwegen hat für den Umgang mit den steigenden Besucherzahlen noch kein Patentrezept gefunden, möchte die Tourismusbranche aber im öffentlichen Nahverkehr unterstützen und Urlauber auch in kleinere Städte – eben weg von den Massen – locken. Gleichzeitig erwägt man fünf bekannte Fjorde für Kreuzfahrtschiffe zu sperren, die nicht den neuesten Umweltanforderungen entsprechen. Das ist allerdings noch nicht durchgesetzt. Politische, soziale und wirtschaftliche Zwänge erschweren aber vor allem außerhalb von Europa das Vorankommen des sanften Tourismus. Dennoch, Ausnahmen gibt es. Allen voran Costa Rica, das Musterland des Öko-Tourismus. Und auch in Indien sind nennenswerte Bewegungen im Gange.

Von 80 Prozent Rodung zu 50 Prozent Aufbau: Costa Rica

Der Regenwald ist in Costa Rica immer noch beliebt bei Touristen.
Der Regenwald ist in Costa Rica immer noch beliebt bei Touristen. © istock

Tropische Wälder, karibisch anmutende Küsten, eine unglaubliche Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten. Das lieben Reisende an Costa Rica. In den 70er und 80er Jahren war das alles in Gefahr. Fast 80 Prozent des Regenwaldes wurden für die Landwirtschaft gerodet, ein Verlust, der das Land fast um sein touristisches Potenzial brachte. Initiativen Einzelner lösten ein Umdenken aus. Es bedurfte vieler Investitionen, dazu war das Einschreiten von Organisationen wie dem National Biodiversity Institute notwendig und ein jahrhundertelang geführter Kampf der ländlichen Gemeinden um ihre Identität und ihren Lebensraum. Heute stehen 25,6 Prozent der Landesfläche unter Schutz. Die Abholzung ist zwar nicht völlig gestoppt, so werden zum Beispiel für den Export von Ananas weitere Anbauflächen geschaffen, doch der Tourismus hat jetzt die wirtschaftliche Kraft diesem Vorgehen entgegenzuwirken.

Costa Rica wählt dabei ein Tourismus-Modell, das auf Nachhaltigkeit basiert – egal ob beim ländlichen Öko- und Abenteuer- oder beim Wellness- und Gesundheitstourismus. Sowohl den Urlaubern als auch den Anbietern helfen landesweite Auszeichnungssysteme: Das Blue Flag Ecology Program evaluiert Strände anhand ihres ökologischen Zustands. Unterkünfte können sich für das Label Eco-Hotel bewerben, All-Inclusive Hotels werden dagegen nicht mehr gefördert. Und bis 2020 möchte das Land komplett CO2-neutral sein. Nicht zuletzt ist der Naturschutz in der Verfassung Costa Ricas festgeschrieben, betont Rainer Stoll, Geschäftsführer von Travel to Nature, einem Reiseunternehmen, das Entdecker- und Familienreisen mit sozialem und ökologischem Anspruch in Costa Rica anbietet. „Die Costa Ricaner selbst glauben an Nachhaltigkeit und haben letztendlich nichts anderes außer ihrem grünen Gold.“

Neues von der Basis: Indien

Indien. Das sind 29 Bundesstaaten und weit über eine Milliarde Einwohner. Die Natur und die Menschen, so vielfältig. Hochgebirge, tropische Regenwälder und brüllende Stadtlandschaften. Es ist das Land des Yoga, der Farbenpracht und der besonnenen vegetarischen Küche. Indien ist aber auch enorme Umweltverschmutzung und Massentourismus. Dennoch: Lokale, nachhaltige Tourismusinitiativen in Indien gibt es. Sie trotzen den durch extreme Armut und Korruption gegebenen Schwierigkeiten. Deswegen dürfen auf dem Subkontinent nicht dieselben Maßstäbe angelegt werden wie in Deutschland oder Norwegen. Es gilt vielmehr, kleine Basisinitiativen, sogenannte Graswurzelbewegungen (engl. grassroots), aus der Bevölkerung anzuerkennen, die unter schwierigen Bedingungen arbeiten und im eigenen Land oft auf Unverständnis stoßen.

Ein wenig Orientierung bietet die Organisation Travel Responsibly – völlig unabhängig von den offiziellen Tourismusbehörden. Sie stellt im Internet verschiedene Homestays und Eco-Resorts vor. Exkursionen, die Teilnahme an lokalen Aktivitäten für Touristen, aber auch die Fortbildung von einheimischen Reiseanbietern stehen hier im Fokus. Nur durch eine solche Art von sanftem Tourismus hätten Länder wie Indien die Chance, eine ausgewogene Entwicklung zu erreichen, betont Arya Vibhu von Travel Responsibly.

Nachdem Donald Trump entschieden hatte, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen auszusteigen, sendete Arnold Schwarzenegger dem Präsidenten eine Videobotschaft. In der sagte er sinngemäß: „Wie alle großen Veränderungen in der Geschichte, beginnt auch unsere saubere Zukunft mit einer Graswurzelbewegung.“ Soll heißen: Wir müssen es selber machen. Das gilt auch für den Tourismus. Es gibt Regionen und Initiativen, Hotels und Veranstalter, die eine Alternative zum herkömmlichen Reisen bieten. Ihnen allen ist eines gemein: Sie haben erkannt, dass es Tourismus ohne Natur und Kultur nicht geben kann.

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