Bonn. Im Mittelrheintal gibt es für Touristen jede Menge zu sehen. Aber macht eine Kreuzfahrt auch für Blinde Sinn? Ein Aachener Verein hat es ausprobiert.

Trotz 23-jähriger Erfahrung als Gästeführerin auf einem Rhein-Ausflugsschiff kann sich Roswitha Samson ein Lächeln bei dem folgenden Satz nicht verkneifen. Gerade passiert das Schiff, die MS Beethoven, Deutschlands längsten Fluss auf der Höhe von Rhöndorf, als die lebensfrohe 71-Jährige die Arme ausbreitet und mit dem Arm durch das Backbord-Fenster zeigt. „Und hier links von uns sehen Sie den Drachenfelsen“, sagt sie, beschreibt hernach ausführlich die Ruine auf dem Kopf des Berges und liefert noch weitere Anekdoten und Fakten. Was Gästeführer eben so sagen, wenn sie Touristen vom Schiff aus die Sehenswürdigkeiten der Umgebung präsentieren wollen. Unzählige Male hat die Westfälin aus Soest dies schon getan – doch bei ihrer aktuellen Klientel könnten die Worte nicht schiefer wirken.

Von den 40 Gästen, die es sich auf dem Vorderdeck der Beethoven gemütlich gemacht haben, wird die Hälfte den legendären Felsen niemals sehen. Es sind Mitglieder des Blindenvereins Aachen, die sich für ihren Jahresausflug ausgerechnet eine Flussschifffahrt ausgesucht haben – wo es normalerweise für Sehende viel zu entdecken gibt. Aber für Blinde?

Bilder über andere Sinne erzeugen

Anfangs sei der Vorschlag tatsächlich eher gewöhnungsbedürftig gewesen, erinnert sich der Vereinsvorsitzende Herbert Sorge. Mit seiner dunklen Sonnenbrille ist er leicht als Sehbehinderter erkennbar, sein schwarzer Blindenhund Steffi am anderen Ende des Tisches komplettiert das Bild. „Aber dann haben wir uns mit dem Konzept auseinandergesetzt – und das hat einfach überzeugt.“ Hund Steffi schaut kurz nach oben, und legt dann wieder die Schnauze auf die ausgestreckten Pfoten. Das Tier wird heute Mittag nicht gebraucht. Steffi hat frei.

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Die Idee hinter „RheinSinne“, wie das seit vergangenem Jahr bestehende Programm heißt, ist an sich recht simpel. Da sich Sehbehinderte nicht auf ihre Augen als Informationslieferant verlassen können, sind ihre anderen Sinne perfekt geschult. Wenn man es also schafft, sozusagen Bilder über Tast- und Geruchssinn, Geschmack und Hörvermögen zu erzeugen, haben auch Menschen ohne oder mit eingeschränkter Sehkraft eine Vorstellung, wie die Welt hinter dem dunklen Vorhang aussieht.

Detailliertere Erläuterungen der Sehenswürdigkeiten

Dieses aber in die Tat umzusetzen ist leichter gedacht als getan. Eine Gruppe von angehenden Tourismuskaufleuten hat im Rahmen ihrer Ausbildung ein Konzept entwickelt, das Reize für alle Sinne liefert und gleichzeitig die Region charakterisiert. So sind beispielsweise die Erläuterungen des Gästeführers detaillierter als bei den üblichen Passagieren. „Bei denen reicht es, die Blickrichtung anzugeben. Die erfassen sofort die Szenerie“, weiß Roswitha Samson, und beginnt eine Stunde nach der Abfahrt damit, weitere Utensilien für ihre Tour aufzubauen. In mehreren Kartons hat sie Proben von für die Region typischen Gesteinsvarianten: Flusskiesel aus dem Rhein, Lavagestein vom Rodderberg sowie Trachyt vom Drachenfels. Die Teilnehmer bekommen die Steine in die Hand, tasten, fühlen und erfahren Gewicht und Oberfläche.

Beim Trachyt besteht zudem eine Besonderheit: Dem am Hang des Drachenfelsens wachsenden Wein wird nachgesagt, dass das poröse Vulkangestein unter den Reben einen besonders säurearmen Tropfen hervorbringt. Kurz vor der Richtungsänderung in Linz – die Tour mit der MS Beethoven führt von Bonn nach Linz und wieder zurück – hat Samson bereits mehrere Flaschen in Gläser umverteilt, und der Aachener Blindenverein hat auf der Rückfahrt nach Bonn die Gelegenheit, den Charakter eines lokalen Weins zu erschließen.

Auch das innere Auge nimmt die Umgebung wahr

Auf Höhe Unkel ist es Zeit, den letzten Anreiz zu setzen. Die Gästeführerin verteilt an jeden Gast kleine Phiolen mit fruchtigen Düften. Diese Aromen – unter anderem Birne und Apfel – lassen sich auch bei einigen lokalen Weinen wahrnehmen. Einige Gäste tun sich mit dieser Sensorikprobe eher schwer, doch Karin Günkel aus Eschweiler braucht nicht lange für die Identifizierung ihres Fläschchens. „Limone“, errät die 73-Jährige den Duft korrekt, sobald der weiße Plastikkorken entfernt ist. Die elegante Dame im blauen Kostüm sitzt an der Backbordseite, rückt ihre Sonnenbrille zurecht und nimmt gelassen die Glückwünsche ihrer mitreisenden Freundin entgegen.

Infos zur Tour

Die für Blinde und Sehbehinderte konzipierte Tour „RheinSinne“ ab/bis Bonn kann bei der Tourismus & Congress GmbH Region Bonn (0228/910 41 37) für Gruppen ab 10 Personen gebucht werden. Tickets kosten 29,90 Euro bzw. 39,90 Euro pro Person.

Aber hat sie vor ihrem inneren Auge tatsächlich die Reize der Umgebung wahrgenommen, „gesehen“? „Natürlich nicht wie ein Sehender“, so die Antwort, „die detaillierten Umrisse sind mir entgangen.“ Aber sie habe eine Ahnung, wie es sich in den Städten am Ufer anfühlen muss, wenn man über die Straße läuft oder einfach nur in einem Café ein Glas trinkt. „Und das ist schön.“

Eine Erfahrung, die sie mit den anderen Vereinsmitgliedern teilt. Während der gesamten Rückfahrt diskutieren die Gäste von „RheinSinne“ über die Tische miteinander, alle sind ob der Erfahrungen aufgeregt und zufrieden.

Nur Steffi nimmt alles eher stoisch auf. Steffi hat frei.