Koblenz. Im Mittelrheintal ballen sich Mythen und Klischees zuhauf - Deutschland in R(h)einkultur. Seit 2002 ist der Abschnitt Unesco-Weltkulturerbe.
Kein Ort für schlichte Worte ist das hier. Für Banales, für Alltägliches, für immer wieder Gehörtes. Hier, weit oben über dem Fluss, braucht man Superlative. „Das ist der Grand Canyon der Romantik!“ Wolfgang Blum zeigt hinunter ins Mittelrheintal, und ein wenig stolz schwingt da mit in der Stimme. Wolfgang ist Wanderführer, gerade ist er 60 geworden, auf den Rheinsteigen ist er zu Hause.
Der Blick geht weit hinein in das tief eingeschnittene, sich verengende Tal, durch das sich der Rhein windet. Seine Ufer sind gesäumt von unzähligen Burgen, als seien sie an einer Kette aufgezogen.
Das hier ist Deutschland in R(h)einkultur, hier ballen sich Mythen und Klischees zuhauf, hier sammelten Anfang des 19. Jahrhunderts Achim von Arnim und Clemens Brentano deutsches Volksliedgut ein und schnürten daraus „Des Knaben Wunderhorn“, die lyrische Wiege der deutschen Romantik. „Wenn das Wasser im Rhein gold’ner Wein wär’ …“
36-Stunden-Wanderung – wer’s mag...
Seit 2002 tragen die 65 Kilometer Mittelrheintal zwischen Rüdesheim und Koblenz den Unesco-Titel „Welterbe der Menschheit“. Und tatsächlich ist der Blick von diesem Rastplatz oberhalb des Fachwerkstädtchens Assmannshausen, in dessen Mitte das altehrwürdige Hotel Krone von 1541 ruht, hinunter auf den mächtigen Flusslauf atemberaubend. Mit einer gewissen Berechtigung wird dieser Platz, an dem sich wunderbar verweilen lässt, Rotweinlaube genannt – an den steilen Hängen wächst vor allem die empfindliche Spätburgunderrebe.
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Hinter uns, da wo der Fluss einen Knick macht, fließt die Nahe in den Rhein, gleich bei Bingen am anderen Ufer im Rheinhessischen. Ganz anders als der Rheingau mit seinen im westlichen Teil recht steil zum Fluss hin abfallenden Hängen, ist Rheinhessen ein eher sanftes Hügelland. Ein Land, das zum Wandern einlädt, zum Wandern in seiner eher erholsamen Variante. Anders geht es auf den Rheinsteigen zu. Wolfgang Blum bietet dort auch 24- und 36-Stunden-Wanderungen an. Wer’s mag...
Herablassende Fingerzeige auf das andere Rheinufer
So verschieden wie die Topografie dieser Regionen, so polarisierend war über lange Jahre hin auch das Denken über die Bewohner der jeweils anderen Uferseite. Man schätzte sich nicht über die Maßen, was sich auch heute noch – wenngleich humorvoll – in einem ein wenig herablassenden Fingerzeig auf die jeweils andere Rheinseite manifestiert. Der Finger zeigt zu jenen dort drüben. Zu den Rheinhessen aus Rheinland-Pfalz und zu jenen aus dem Rheingau, der zu Hessen gehört. „Früher sind die beiden Regionen sehr getrennte Wege gegangen“, sagt Diana Nägler, Geschäftsführerin des Tourismusverbands Rheingau-Taunus. In jüngster Zeit aber habe man sich angenähert mit dem Ziel, Kooperationen zu schaffen. Was vor allem im Bereich Wandern und Radfahren realisiert werden soll, einige der großen Outdoor-Trümpfe dieser beiden Rheinregionen.
Das bestätig auch Christian Halbig von der Rheinhessen-Touristik, wenngleich er einschränkend sagt, dass „der Gast die Grenzen sowieso nicht wahrnimmt“ – die Grenze, die zwischen hier und drüben verläuft. Die Grenze, die der Rhein zieht.
Den Gast, in der Tat, schert’s wenig. Mit den Fähren kreuzt er von Bingen in Rheinhessen nach Rüdesheim im Rheingau – und genießt, was ihm Natur, Küche und Keller zu bieten haben. Da hatte lange Zeit der Rheingau die Nase vorn, mit imposanten, historisch wuchtigen Bauwerken wie Schloss Johannisberg oder Kloster Eberbach, in dem Jean-Jacques Annaud Mitte der 1980er-Jahre den Mystery-Thriller „Der Name der Rose“ mit Sean Connery gedreht hat. Damit kann Rheinhessen nicht aufwarten.
200 Jahre Rheinhessen
Rheinhessen, das in diesem Jahr sein 200-jähriges Bestehen feiert, hat andere Qualitäten. Wenngleich sie lange Jahre im Verborgenen schlummerten. Nicht nur dass seit Kurzem die Wanderwege tatkräftig ausgebaut werden, womit einem aktuellen touristischen Trend Rechnung getragen wird. Vor allem wird auch in das große Naturgut der beiden Regionen investiert: den Wein. Galt der Rheingau über Jahrzehnte als die uneinnehmbare Hochburg des Rieslings, so gerät diese Vormachtstellung langsam ins Wanken. Rheinhessen ist das größte deutsche Weinanbaugebiet, und seit Generationen wurschtelten die Winzer auf ihren riesigen Hektarflächen vor sich hin. Qualität spielte nur untergeordnet eine Rolle, was zählte, war die Masse
Tempi passati. „Früher hat hier jeder sein eigenes Süppchen gekocht“, erzählt Stefan Winter, der sein Weingut in der kleinen Ortschaft Dittelsheim betreibt. Die „Rückbesinnung auf die Historie“ habe Rheinhessen lange Zeit gelähmt. Entscheidend für die Qualitätsoffensive sei der Generationswechsel gewesen, Anfang der 2000er sei es dann „richtig losgegangen“. Winter gründete den Verein „Message in a bottle“, in dem sich junge Winzer zusammentaten und ihre Erfahrungen untereinander austauschten. Und das mit Erfolg: heute kommen hervorragende Rieslinge und Grauburgunder aus Rheinhessen, die die Rheingauer Konkurrenz schon mal das Fürchten lehren können.
Mut, Neues zu versuchen
Die Entwicklung bestätigt auch Philipp Wasem vom Familienweingut Wasem in Ingelheim. „Rheinhessen hat aus der Vergangenheit gelernt und bringt in den letzten Jahren bestens ausgebildete und hoch motivierte Jungwinzer hervor, die das doch sehr große Weinbaugebiet dynamisch und mit viel Elan voranbringen“, sagt der junge Mann. Man habe „den Mut, Neues zu versuchen und andere Wege zu gehen, statt in alten Spuren zu verharren“.
Besonders wichtig – und das betonen Winter wie Wasem gleichermaßen – seien auch die bessere Ausbildung der Winzer und jene Erfahrungen, die viele von ihnen im Ausland gesammelt hätten. Kurios: Die Hochschule, an der auch der rheinhessische Jungwinzer Philipp Wasem Weinbau und Önologie studiert hat, liegt in Geisenheim. Und das liegt im Rheingau.
Alles eine Frage der Perspektive: Von den Schlössern, Burgen und steilen Hängen des Rheingaus blickt man weit hinein in das hügelige Rheinhessen (Marketing-Slogan: „Magie der 1000 Hügel“), von der neuen Uferpromenade im rheinhessischen Bingen, wo 1179 die Benediktinerin und Dichterin Hildegard von Bingen starb, hingegen schaut man hinauf zu eben jenen Festungen, Denkmälern und Weingärten..
Alles eine Frage der Perspektive
Und entdeckt dabei vielleicht die Benediktinerinnenabtei St. Hildegard. Dort leben gut zwei Dutzend Nonnen nach den Ordensregeln des Heiligen Benedikt. „Erst dann sind sie Mönche und Nonnen, wenn sie von der Arbeit ihrer Hände leben“, heiß es in Kapitel 48 der Benediktusregeln. Ein Grundsatz, der hier wahrlich beherzigt wird. Klosterladen, Klostercafé, Keramikwerkstatt, Seminare, Führungen – ora et labora ist hier lebenserfüllendes Programm. Und, natürlich, wird auch hier Wein angebaut, Schwester Lydia hat die Aufsicht über Keller und Rebstöcke, sie ist eine gebürtige Bremerin. Und ein wenig hanseatischer Kaufmannsgeist scheint auch in die Klostermauern Einzug gehalten zu haben. Als es eines Tages galt, einen Bagger für nötige Bauarbeiten zu erstehen, wurde dieser flugs auf Ebay ersteigert. Und nach getaner Arbeit dort auch wieder verkauft. Mit Gewinn. Na dann, Prost!