Lauwersoog. Vom Dollart bis zum Marsdiep erstreckt sich das niederländische Wattenmeer: eine faszinierende Landschaft voller Rinne, Prielen und - Austern.

Sanfter kann man kaum stranden. Ein leises Knirschen, ein kaum spürbarer Ruck – und wir sitzen fest. Die schweren, braunen Segel der „Willem Jacob“ pendeln noch ein wenig im Wind, den 26 Meter langen Klipper bewegen sie aber keinen Zentimeter mehr voran. End­station für heute: die Engelsmanplaat, eine Sandbank ungefähr vier Kilometer vor der Küste der niederländischen Provinz Friesland. Die meisten Kapitäne wären verzweifelt, erst Stunden später bei einsetzender Flut wieder Wasser unterm Kiel zu haben. Maurits van Dijk jedoch ist mit der festgefahrenen Lage zufrieden: Er lässt die Strickleiter runter, nun geht es zu Fuß weiter. Draußen im Wattenmeer wartet das Abendessen.

Vom Dollart in der Provinz Groningen bis zum Marsdiep zwischen der nordholländischen Stadt Den Helder und der Insel Texel erstreckt sich der nieder­ländische Teil des Weltnaturerbes ­Wattenmeer. Zweimal täglich zieht sich die Nordsee zurück, gibt eine faszi­nierende Landschaft frei – mit Rinnen und Prielen, in denen sich jetzt die unterge­hende Sonne spiegelt. In der Ferne fläzen sich Robben auf einer Sandbank. Seevögeln beschert die Ebbe einen mit Wattwürmern, Muscheln und Krebsen reich gedeckten Tisch. Wir, die Passagiere der „Willem Jacob“, zwängen uns in olivgrüne Wat­hosen mit eingearbeiteten Gummistiefeln. Eine adäquate wasserdichte Ausstattung, um am Mahl des Meeres teilzunehmen.

Es gibt nichts Schöneres als die Stille im Meer

Zum Glück ist Jaap Vegter mit von der Partie. Der 56-Jährige hat Biologie an der Universität Groningen studiert, sein Lebensglück aber als Berufsfischer gefunden: „Was soll ich am Schreibtisch versauern? Es gibt nichts Schöneres als die Stille im Wattenmeer“, sagt er, sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht strahlt zur Bestätigung. Jaap stapft ­voraus durch den glitschigen Schlick, bis wir langsam festeren Boden unter die Füße bekommen, aus dem eine zerklüftete graue Beule herausragt. „Hier findet ihr die besten Austern!“

Man muss zweimal hingucken, um in dieser Miniaturkraterlandschaft tatsächlich eine Kolonie Pazifischer Austern zu erkennen, die sich irgendwann hier angesiedelt hat. Und deren Qualität mit der der Sylter Royal durchaus mithalten kann, denn auch die hat pazi­fische Herkunft. Jaap kratzt mit seinem Messer die Seepocken von einer Auster, öffnet siemit einem Knack, schüttet das Meerwasser aus, schlürft sie. „Am besten schmecken sie von Oktober bis Mai. Wenn du sie roh essen willst, dürfen sie nicht zu groß sein, die Größeren eignen sich besser zum Gratinieren oder auf dem Grill.“

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Crashkurs in Austernkunde. Es wird gestochert, begutachtet, geknackt und immer wieder probiert, schließlich ist das Horsd’œuvre im mitgebrachten Sack! Zurück an Bord der „Willem Jacob“ wartet schon Ingrid Onstek. Eigentlich ist die 60-Jährige Bildhauerin. Weil sie aber das Meer liebt und auch die Kochkunst ­beherrscht, modelliert sie heute das Abendessen – ein Tableau von Austern mit Zitrone und Salz als Vorspeise, Skulpturen aus Blätterteig mit Krabben als Zwischengang, dann wahlweise Fisch oder Lammkotelett als Relief auf einem Kräuterbett; in jedem Fall eine Kunst, in der kleinen Kombüse ein solch kulinarisches Mahl zu zaubern. Das Dessert ist berauschend: sternenklarer Himmel über dem Wattenmeer, außer der Positionsleuchte am Mast kein künst­liches Licht weit und breit, nichts als unendliche ­Ruhe.

Eine alte Dame

Am nächsten Morgen kommen alle wieder in Bewegung. Die „Willem Jacob“ auch, weil die Flut endlich Wasser unter ihren Bug spült. Der 1889 in Slikkeveer ge­baute Einmastklipper, der die längste Zeit seines Schiffslebens als Fracht­segler Steine auf dem Rhein trans­portierte, schaukelt ungeduldig an der Ankerkette. Eine alte Dame, die in den vergangenen Jahren aufgehübscht ­wurde: Ihr heutiger Eigner Tsjerk ­Hesling Hoekstra restaurierte das Schiff Schritt für Schritt, baute den Frachtraum zum Tages- und Schlafraum für Gäste um, erneuerte Mast, Großbaum und Fallen, ließ das Holzdeck in neuem Glanz erstrahlen.

Kapitän Maurits van Dijk, mit seinen 25 Jahren bereits ein ­erprobter Fahrensmann, der schon heftige Stürme meisterte, lässt die Segel setzen. Das schafft die dreiköpfige Crew nicht allein. Also alle ran, Frauen wie Männer. Mithilfe der eisernenWinde wird das Großsegel hochgezogen, die Fock gefiert, und in rauschender Fahrt geht es zurück nach Lauwersoog, dem Ausgangspunkt dieser Kreuzfahrt.