Gizycko. Um Polens “Sommerhauptstadt“ Gizycko erstreckt sich eine riesige Seenlandschaft. Diese lässt sich ganz ruhig und entspannt mit dem Hausboot erkunden.
Ein paar Schön-Wetter-Wolken spiegeln sich auf dem Wasser. Am Ufer schaukelt das Schilf sanft im Wind, ein leises Rascheln ist zu hören, sonst nichts. Über dem Wald kreist ein Bussard – so lange bis er ein passendes Frühstück entdeckt. Plötzlich scheint er reglos am Himmel zu stehen, um sich wenig später senkrecht hinunterzustürzen, wahrscheinlich zur anvisierten Maus.
Wir sind dagegen vollauf zufrieden mit unserem Kaffee. Eine erste Tasse morgens an Deck und dabei der masurischen Welt beim Aufwachen zusehen – was will man mehr. Wir haben in Gizycko, einem der touristischen Hauptorte an der Masurischen Seenplatte, ein Hausboot übernommen, von einem Münsteraner. Hendrick Fichtner, eigentlich Vermessungsingenieur von Beruf, absolvierte ein Auslandssemester in Polen, verliebte sich in die Tochter vom Professor und blieb dort hängen. 2002 gründete das junge Paar eine Internetagentur für Reisen in Polen. Die ersten Jahre haben sie Kontakte aufgebaut, nach Vermietern von Pensionen oder Ferienwohnungen gesucht. „Wir hatten immer eine Flasche Wodka dabei, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen“, erzählt Fichtner. Es hat funktioniert. Seit 2012 vermittelt er, inzwischen verheiratet und Vater einer Tochter, feste Unterkünfte – und Hausboote.
Proberunden im Hafen, dann geht’s schon los
Er ist inzwischen der größte Anbieter in Masuren. 70 Boote hat er unter Vertrag. Wir haben uns für „Follow me“ entschieden, ein 8,30 Meter langes Boot, angeblich ideal für Anfänger. Ein Bootsführerschein wird nicht verlangt. Eine Einweisung, ein paar Proberunden im Hafenbecken, ein, zwei Anlegemanöver: Mehr braucht der Freizeitkapitän nicht.
Die erste Nacht verbringen wir im Hafen von Gizycko, früher Lötzen, heute oft Sommerhauptstadt Polens genannt. Mit EU-Geldern wurde hier bereits 2011 eine moderne Marina gebaut. Denn Masuren setzt auf Wassertourismus. Was sich anbietet, schließlich gibt es hier mehr als 3000 Seen, viele davon sind mit Flüssen und Kanälen verbunden. „Selbst wer zwei Wochen mit einem Boot unterwegs ist, braucht nicht einmal die gleiche Strecke zu fahren“, sagt Fichtner, selbst stolzer Eigner eines Hausboots.
Durch einen Kanal schippern wir am nächsten Morgen von Gizycko hinaus auf den Löwentinsee. Auch auf der offiziellen Karte aus dem Tourismusbüro sind neben den polnischen die deutschen Namen verzeichnet – was die Aussprache erheblich erleichtert. Das Boot ist tatsächlich einfach zu steuern, der See schön breit und außerhalb der Hochsaison im Juli und August sind nur wenige Schiffe unterwegs. Dafür umso mehr Vögel: Störche, Adler, Schwalben und Reiher zeigen in der Luft ihre Flugkünste, dazu schwirren jede Menge Libellen übers glitzernde Wasser. Der 20 PS-Motor schafft 35 km/h, wir fahren höchstens halb so schnell, widmen uns den Details am Ufer und auf See. Sogar der Steuermann hat bei dem Tempo genug Gelegenheit, die Natur zu genießen, erst recht derjenige, der sich vorne auf dem Sonnendeck einrichtet.
Marienbilder mit Plastikblumen
Überall am Ufer sind kleine Camping- und Picknickplätze zu sehen. In den warmen Sommermonaten, wenn die Temperatur auf mehr als 30 Grad steigt und das Boot mit sechs Personen voll besetzt ist, zieht ein Teil der Besatzung gerne zum Schlafen ins Zelt um.
Wir steuern am liebsten die kleinen Häfen an, so wie Rybacówka: 30 Liegeplätze in einer ruhigen Bucht bei Bogaczewo am Jezioro Boczne (Saitensee), 20 Zloty für Schiff und Strom und noch mal zehn pro Person, inklusive Duschen – zu zweit also umgerechnet rund zehn Euro. Monika und Kamil Stankiewicz betreiben nicht nur den Hafen, sondern auch eine kleine Pension sowie ein Restaurant, in dem man fangfrischen Fisch serviert bekommt. Hier gibt es auch Kanus und Fahrräder zu leihen.
Eine gute Gelegenheit, die Gegend zu erkunden. Man radelt auf langen Alleen, oft völlig unbehelligt vom Autoverkehr, vorbei an zahlreichen Marienbildstöcken, die meisten ziemlich opulent mit Plastikblumen „geschmückt“. Oder über buckliges Kopfsteinpflaster in Dörfern, die wie ausgestorben wirken. Man könnte noch tagelang weiterradeln, würde nicht im Hafen das Hausboot locken.
Viele Urlauber sind Heimwehtouristen – noch
Inzwischen klappt selbst das Anlegen im Hafen, der kniffeligste Part einer Bootspartie, problemlos. Einzig vor dem Steinorter Horn hat uns Hendrick Fichtner gewarnt. Vor der Halbinsel, die in den Dargainen-See hineinragt, gibt es Untiefen. Deshalb wird empfohlen dort genau der Fahrrinne, markiert durch die rote und grüne Tonne, zu folgen.
Sztynort (Steinort) ist der Stammsitz der Grafen von Lehndorff. Ihr Schloss hat den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstanden, ist in den Jahren danach aber zusehends verfallen. Der letzte Besitzer, Heinrich von Lehndorff (1909 - 1944), war aktives Mitglied des Widerstands gegen die Nazis. Nach dem missglückten Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler in der Wolfsschanze, nicht weit entfernt von Steinort, wurde der Graf gehenkt und die Familie vertrieben. Mittlerweile gehört das Schloss der Deutsch-Polnischen Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz, die versucht, die nötigen Millionen zur Restaurierung aufzutreiben.
Bisher kommen rund 85 Prozent der Masuren-Urlauber aus dem Inland, die meisten ausländischen reisen aus Deutschland an. Viele von ihnen gehören zu den „Heimwehtouristen“. Mittlerweile hat allerdings ein Generationenwechsel stattgefunden. Diejenigen, die ihre Jugend hier, im damaligen Ostpreußen, verbracht haben, sterben aus. Dafür suchen Kinder oder Enkel nach den Wurzeln ihrer Vorfahren. Oft verbinden sie diese Spurensuche mit einem Boots- oder Radurlaub.