Leuk. Im September werden im schweizerischen Leuk die Schafe von den Bergen ins Tal getrieben. Dieses Spektakel lockt tausende Besucher und Einheimische an.
Kaum vorstellbar, dass hier hinunter ein Pfad führen soll. Über 900 Höhenmeter windet sich der Gemmiweg in engen Serpentinen fast senkrecht in die Tiefe. Über diesen halsbrecherischen Weg werden jedes Jahr bis zu 800 Schafe mit ihren Lämmern zurück ins Tal getrieben. Doch nun muss Bob, der Hütehund, noch mal los. Neun Schafe fehlen. Die muss der Border Collie finden auf dem weiten Hochplateau rund um den Daubensee, irgendwo zwischen den Gipfeln Lämmerngrat, Tierhörnli und Rinderhorn.
Die Schafe aus Leuk und Umgebung verbringen jedes Jahr den Sommer auf den Weiden des Gemmipasses. Dort fressen sie sich mit frischen Bergkräutern dick und rund, und gebären ihre Lämmer. Weil ein Wolf dort oben sein Unwesen getrieben haben soll, muss seit vergangenem Jahr mindestens ein Hirte ständig bei den Tieren bleiben. Auch Monica Duran, Präsidentin des Walliser Schwarznasenschafverbands, verbrachte mehrere Wochen im Sommerquartier der Schafe. Der Wolf sei weg, vielleicht auch nie dort gewesen und Probleme gäbe es eher mit freilaufenden Hunden, meint Duran. „Dort oben habe ich meinen Frieden“, beschreibt die Berufsschäferin den Hütedienst. Im Juni brachte sie zusammen mit den anderen Schafzüchtern ihre Rassen Suffolk, Charollais und Weißes Alpenschaf auf die Gemmi. „Es ist schön, wenn sie gehen, und noch schöner, wenn sie im Herbst wieder kommen“, beschreibt Monica Duran.
Im September müssen die Tiere zurück ins Tal
Denn im September ist es vorbei mit der paradiesischen Bergeinsamkeit, auch für ihre Lieblingsschafe „Fleckchen“ und „Wuschel“. Dann müssen alle Tiere über den schwindelerregend-steilen Bergpfad wieder hinunter ins Tal, in die heimischen Ställe – oder aber direkt zum Metzger.
Der spektakuläre Schafabzug zieht alljährlich tausende Besucher und Einheimische an. Bereits einen Tag vor dem waghalsigen Almabtrieb haben die Schäfer mit ihren Hunden die Tiere zu einer großen Herde zusammengetrieben. Jetzt warten alle ungeduldig auf die Nachzügler. Glöckchen bimmeln, Lämmer blöken und die Mutterschafe antworten mit beruhigendem „Muh“ und „Mäh“. Eifrig umrunden die Hütehunde die Tiere, soll sich doch keines alleine auf den Weg machen. Mit Spannung warten auch die Zuschauer auf den Start des Schafabtriebs. Sie sind mit der Gondelbahn auf die Gemmi heraufgekommen. Seit dem Morgen ist der Wanderweg gesperrt – niemand soll den Schafen beim Abstieg in die Quere kommen. Zwischen Wolkenfetzen tauchen die schneebedeckten Viertausender des Wallis auf: Weisshorn, Dufourspitze und das Matterhorn.
Die Gemmi ist ein sehr alter Passweg und soll schon in der Bronzezeit begangen worden sein. „20 Batzen, Brot und ein halb Pfund Käs“, bekam ein Träger einst als Lohn, wenn er half, eine „Manns- oder Weibsperson“ über den gefährlichen Gemmiweg zu tragen. Mancher Reisende ließ sich sogar die Augen verbinden, um nicht in den schrecklichen Abgrund blicken zu müssen, berichten die Chronisten. Heute führt ein gesicherter Wanderweg ins Tal, auf dem auch die Schafe nach Leukerbad zurückkehren.
Die Lieblinge der Gäste sind die Schwarznasen
Endlich treibt Bob mit dem Schäfer die verlorenen Tiere heran. Jetzt geht’s los: Der Schafabzug vom Gemmipass in das gut 900 Meter tiefer liegende Leukerbad beginnt. Auf dem Schauder erregenden Pfad, von dem schon Mark Twain vor bald 150 Jahren in seinem Buch „Bummel durch Europa“ berichtete: „Wir begannen jetzt unseren Abstieg auf dem merkwürdigsten Wege, den ich je gesehen habe. Er wand sich in Korkenzieherkurven an der Stirnwand des ungeheuren Steilhanges hinab – ein enger Pfad, auf dem man an dem einen Ellenbogen stets die massive Felswand und an dem anderen das senkrechte Nichts hatte.“ Viel geändert hat sich auf dem Gemmiweg bis heute nicht. Nur an den steilsten Stellen wurden Treppen aus Beton angelegt und Stahlseile zur Sicherung angebracht.
Wie ein endloser, sich windender Wollknäuel flitzen die Schafe in halsbrecherischem Tempo über die steilen, schier senkrechten Serpentinen nach unten. Nur nicht den Anschluss verpassen, immer rasch weiter. Es ist ein einziges Getrippel und Getrappel, Mähen und Blöcken, Gebimmel und Geschubse. Ein Wunder, dass kein Tier über den Abgrund der Gemmiwand in die Tiefe stürzt.
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Die Hunde meistern den Abtrieb souverän. Das ist auch ihr großer Tag. Schäfer Urs Meichtry, ein Kreuz, so breit wie ein Schrank, ist schon seit Jahrzehnten dabei. Seinen Border Collie Bob dirigiert er mit kaum hörbaren Pfiffen. Sie sind ein eingespieltes Team. Ein kurzer Pfiff und der Hund legt sich flach auf den Boden, beobachtet konzentriert die Schafe. Ein zweiter Pfiff und Bob treibt zielstrebig und seitlich flankierend die Herde voran. Wie ein Dirigent leitet er sein Orchester – die Schafherde.
Nach einem kurzen Verschnaufen auf der Allmei, der Festwiese oberhalb von Leukerbad, zieht der Tross weiter durch den Ort. Einheimische und Besucher säumen die Straßen mit den schmucken Walserhäusern und glänzenden Thermalbädern. Lämmer, die im Gewühl den Anschluss verloren haben, blöken Herz erweichend, bis sie ihre Mütter wiederfinden. Die Lieblinge der Feriengäste sind die Walliser Schwarznasenschafe mit ihren waagerecht wachsenden, kunstvoll gezwirbelten Hörnern und dem dichten Fell – eine Augenweide.
Abstieg von 1700 Höhenmetern
Auf dem Rathausplatz wird die Herde gesammelt. Die Schafe bekommen frisches Heu, die Hunde dösen ermattet in der Sonne und die Schäfer löschen ihren Durst mit kühlem Bier. Mit einem Fest wird der schwere Abstieg von der Gemmi gefeiert. Raclette- und Bratwurstduft ziehen durch den Ort, untermalt von Alphornklängen und Festjodlern. Und über allem hört man das hundertstimmige Blöken der Schafe und Lämmer.
Am späten Nachmittag zieht der Tross schließlich weiter nach Leuk-Stadt und in die heimischen Bauernhöfe. Die Hirten mit ihren Tieren haben dann einen Abstieg von mehr als 1700 Höhenmetern gemeistert.