Barcelona. Wer an Barcelona denkt, dem fallen wohl zuerst Prachtbauten und Strände ein. Doch die Metropole hat auch andere Seiten - wie uns Einheimische zeigen.

Die verspielten Jugendstil-Werke Gaudís, prächtige Boulevards, einer der größten mittelalterlichen Stadtkerne Europas und hochmoderne Bauten – das bringen Besucher meist mit der katalanischen Metropole Barcelona in Verbindung. Doch die Einheimischen leben vor allem in den Stadtteilen, in die sich nur wenige Touristen verirren. Im Schatten der Alleen von Gràcia und Poble Nou lernen Besucher das eigentliche Barcelona kennen. Zwei einheimische Künstler nehmen uns mit in ihre Viertel.

„Sonne, Berge, Meer und Lebensfreude“, sagt Joan Dausá. Deshalb liebt der Liedermacher seine Heimatstadt so. „Wenn du Barcelona fühlen willst, dann geh’ in die Stadtviertel und sprich mit den Menschen.“

Jeder Kellner hier könne 1000 Geschichten erzählen, sagt Dausá über sein Lieblingsviertel Gràcia. In einem seiner bekanntesten Lieder „Jo mai mai“, was übersetzt so viel bedeutet wie „Ich habe niemals, niemals...“, singt der 35-Jährige von Freunden, die bei einem guten Essen und einer Flasche Wein zusammensitzen. „Lass uns eine Runde Jo mai mai spielen“, schlägt im Lied einer vor. Reihum erzählt daraufhin jeder etwas, über das er noch nie gesprochen hat. So kommt heraus, dass sich einer in die Frau eines Freundes verliebt hat. „Die Geschichte könnte in einem dieser Häuser hier spielen“, meint Dausá und zeigt auf die Fassaden der Jahrhundertwende-Bauten rund um den Diamanten-Platz, die Plaça Diamant.

Gegensätze prallen unvermittelt aufeinander

Schmiedeeiserne Geländer zieren die Balkone. Über den Hauseingängen sitzen Engel, Drachen, seltsame Vögel und andere Fabelwesen aus Stein und Stuck. In Barcelonas Variante des Jugendstils, dem Modernismo, zeigten Architekten ihre Fantasie und die Bauherren ihren Reichtum.

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Nachbarn haben sich zu Vereinen zusammengeschlossen, pflegen katalanische Traditionen und setzen sich für Belange von Arbeitslosen und anderen Benachteiligten ein. „Sozial engagiert“, nennt Dausá die Bewohner seines Viertels, die ihn immer wieder zu neuen Liedern inspirieren.

Anders als im beschaulichen Gràcia und in der mondänen Innenstadt prallen die Gegensätze im einst größten Industriegebiet Spaniens unvermittelt aufeinander: In Poble Nou sprießen zwischen verfallenden Fabriken High-Tech-Gebäude aus dem Boden. „22@“ hat die Stadt ihr neues Kreativ-Quartier genannt: Büros für Technologie-Unternehmen, Apartments, neue Hotels und das erste Null-Energie-Haus Barcelonas katapultieren das einstige Arbeiterquartier ins 21. Jahrhundert.

Künstlerin als "Membran zwischen Innen und Außen"

Am aufgeschütteten Strand schaut eine kräftige rothaarige Frau versonnen aufs Wasser. Die Weite und der frische Wind „reinigen meine Seele“, sagt Eva. Der Performance-Künstlerin gelingt es, gleichzeitig zu erzählen, zu rauchen, SMS zu schreiben und die Umgebung in ihrem Viertel zu beobachten. „Hier“, sagt sie, „hier kommen mein Inneres und Äußeres zusammen.“

Die Künstlerin nennt sich PJ, Paint Jockey. Malend begleitet sie Musiker und Tänzer oder gastiert auf Konferenzen. Dabei setzt sie ihre Beobachtungen in Bilder um. Hoch konzentriert wird sie zur „Membran zwischen Innen und Außen, nimmt malend die Energie der Umgebung auf“.

In einem kahlen Raum der Fundició, einer ehemaligen Gießerei, tanzen zwei junge Frauen zu den sphärischen Klängen eines Trommlers und eines Didgeridoo-Spielers. Eva steht in einem feuerroten Kleid am Rande des Geschehens. Sie malt in großen Schwüngen alles, was passiert, in Schwarz, Gelb und Rot auf eine Leinwand: große, gleichmäßige Kreise in ruhigen Phasen der Performance, kleine, schnelle in den bewegten Passagen.

Zufällige Begegnungen

Einst hieß Poble Nou „katalanisches Manchester“. Anfang des 19. Jahrhunderts bauten Investoren hier Textilfabriken. Das flache Marschland war billig, Wasser gab es reichlich, und das angrenzende Barcelona lieferte Arbeitskräfte. Kaum 100 Jahre später begannen sich die Arbeiter gegen die Ausbeutung in den Fabriken zu wehren. So entstand die Gewerkschaftsbewegung mit ihrem europaweit aktiven anarcho-syndikalistischen Zweig.

Im Zuge der Demokratisierung Spaniens und des EU-Beitritts in den 1980er-Jahren fanden die Textilunternehmen billigere Standorte in Asien und Osteuropa. In leerstehende Produktionshallen zogen Künstler wie Eva Sans.

Sans fühlt sich in Poble Nou wohl. Die Brüche und Gegensätze liefern ihr viele Ideen. Wie jeder Stadtteil Barcelonas hat das einstige Fischerdorf seine Markthalle und seine Rambla, eine von alten Bäumen gesäumte Hauptstraße. Auf dem autofreien Mittelstreifen flanieren die Leute und treffen sich in den Straßencafés auf einen Cortado oder ein Glas Wein. Evas Aufträge entstehen oft aus zufälligen Begegnungen. Ein DJ, den sie flüchtig kennt, erzählt von seinem nächsten Auftritt. Sie bietet an, seinen Gig malend zu begleiten. Manchmal kaufen Gäste ihr Bild oder sie präsentiert es auf einer Ausstellungen – zum Beispiel im Niu, dem Nest, einer ehemaligen Fabrik, in der Künstler kostenlos auftreten können. Betreiber ist ein gemeinnütziger Verein, der sich aus dem Getränkeverkauf an der Bar finanziert. Eva probiert wie viele andere in dieser „Brutstätte der Kunst“ vieles aus, testet Konzepte und Ideen. „Hier, in meinem Viertel, lerne ich, was funktioniert und was nicht.“