Bethlehem. In Bethlehem, wo einst die Engel ihr “Frieden auf Erden“ sangen, trennt heute Stacheldraht Israelis und Palästinenser. Viele Menschen haben Angst.
Gott hat uns ein Land versprochen, in dem Milch und Honig fließt“, sagt der alte Mann im Café und fügt in ironisch scherzendem Tonfall hinzu: „Aber von den Nachbarn hat er nichts gesagt.“ Von dem Straßencafé der israelischen Siedlung Har Homa kann man im Dunst die Olivenhaine auf den gegenüberliegenden Hügeln erkennen.
Die Nachbarn – das sind die Bewohner der palästinensischen Städte und Dörfer ringsum: Sur Baher, Bait Sahur und Bethlehem. Der Tradition nach hüteten in der Gegend einst die Hirten des Nachts ihre Herde. Wo die Engel ihr „Frieden auf Erden“ sangen, trennt heute Stacheldraht Israelis und Palästinenser.
Für die religiösen Bewohner von Har Homa ist ihre Siedlung ihr Zuhause auf gottgegebenem Land. Für die Palästinenser ist es eine illegale Siedlung auf teils zwangsenteignetem Boden.
Gottgegeben oder zwangsenteignet?
„Wir haben Angst“, sagt der Siedler. Auf der anderen Seite liegen die Siedlungen Efrat und Alon Shvut, wo vor wenigen Wochen eine 26-Jährige von einem palästinensischen Terroristen erstochen wurde. Hier waren auch die drei trampenden israelischen Jugendlichen entführt worden. Ihre Ermordung war einer der Hauptauslöser des jüngsten Gaza-Kriegs. „Die Eltern lassen ihre Kinder kaum noch auf den Spielplatz.“
Von dem Balkon vor ihrem Büro blickt Bürgermeisterin Vera Baboun auf die Geburtskirche, das Wahrzeichen und Zentrum ihrer Stadt. Die 50-jährige Katholikin ist Mutter von fünf Kindern. Sie arbeitete zuvor unter anderem als Literaturdozentin an der Bethlehemer Universität. Seit 2012 ist sie die erste Bürgermeisterin der Stadt und die einzige Frau in diesem Amt in der Palästinensischen Autonomiebehörde. „Wir haben nicht einmal mehr die Möglichkeit von Mensch zu Mensch zu sprechen“, sagt Vera Baboun. „Wohin soll das nur führen, wenn es über Bethlehem nur heißt: Seid vorsichtig! Es ist dort nicht sicher. Besser nicht hinfahren! Sind es nicht wir Bethlehemer selbst, Christen und Muslime, die die frohe Botschaft von Weihnachten weitertragen?“
An diesem Adventsnachmittag ist es ruhiger als sonst kurz vor Weihnachten auf dem zentralen Manger Square zwischen der Stadtverwaltung und der Geburtskirche. Vor einer Reihe mit Weihnachtsständen schlendern kleine Gruppen von Einheimischen umher. Touristen sieht man vom Balkon der Bürgermeisterin nicht. Einzig in der Geburtskirche drängen sich die Gläubigen an der Stelle, an der der Überlieferung nach Gott Mensch wurde. Eine Gruppe aus Nigeria fällt vor dem Weihnachtsaltar nieder, Prediger aus Südkorea stimmen spontan ein „Gloria in excelsis deo“ an. Kein anderer Pilgerort hat eine so lange Geschichte wie Bethlehem. Wahrscheinlich verehrten Christen bereits im 2. Jahrhundert die Stelle, an der sie den Geburtsort Jesu vermuteten. Helena, die Mutter Konstantins des Großen, ließ darüber im 4. Jahrhundert eine der ältesten Kirchen überhaupt errichten.
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Maria und Josef müssten heute nicht in den Kuhstall
Als Pilgerort ist Bethlehem vom Fremdenverkehr abhängig. Nach dem Gaza-Krieg im Sommer, nach einer Serie blutiger Attentate im Heiligen Land, nach Ausschreitungen am Tempelberg in Jerusalem und der Angst vor einer neuen Intifada ist die Zahl der Touristen eingebrochen. Wenn Besucher noch in die Stadt kommen, dann werden die Busladungen mit Pilgern oft nur vor der Geburtskirche abgesetzt, zum Gebet durch die Weihnachtsgrotte geschleust und wieder zurück in ihr Hotel in Jerusalem gekarrt. „Bethlehem ist im Norden komplett ummauert. Die Stadt ist von 22 Siedlungen eingekesselt“, sagt Baboun. „Es ist so unfair, dass man uns die Luft abschnürt. Nur zwei Prozent der Einwohner haben die Genehmigung nach Jerusalem zu reisen. Für die Menschen hier ist ihr Glaube aber verknüpft mit den Orten des Glaubens. Meine Tochter Natasha ist 19 und war noch nie in der Grabeskirche in Jerusalem.“
Würden Maria und Josef heute von Nazareth nach Bethlehem reisen, man verwiese sie sicher nicht in den nächsten Kuhstall. 33 derzeit quasi leer stehende Hotels böten allesamt Raum in der Herberge. Allerdings stünde das Heilige Paar mit seinem Esel vor einem anderen Hindernis: Seit die israelische Sperrmauer Bethlehem von Jerusalem trennt, ist der vormals nur 20 Autominuten entfernte Geburtsort Jesu von dem Ort seiner Kreuzigung und Auferstehung abgeschnitten. Für die israelische Regierung ist die Mauer eine Sicherheitsanlage, für die Palästinenser ist sie eine Apartheidsmauer, die Juden und Araber voneinander trennt. „Ich bin als Christin in Bethlehem aufgewachsen“, sagt Baboun. „Und mit all den Herausforderungen um mich. Als Bürgermeisterin bin ich mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert: Arbeitslosigkeit, Auswanderung, der ganze politische Kontext. Aber ich habe früh gelernt, dass ich eine Stimme habe und wie ich sie einsetzen kann.“
Auf den Gebetsruf vom Minarett der Omar-Moschee antworten die Glocken von den Türmen der Geburtskirche. Über dem Schreibtisch von Vera Baboun hängt ein Porträt von Jassir Arafat neben drei Fotos, die die Begegnung der Bürgermeisterin mit Papst Franziskus in Bethlehem zeigen. „Kann man sich vorstellen, dass an dem Ort, von dem einst die Botschaft Jesu ausging, in 50 Jahren vielleicht nur noch fünf oder acht Prozent Christen übrig sind?“ fragt Vera Baboun.
Exodus der Christen
„1948 waren wir 82 Prozent, nun sind wir nur noch 22 Prozent in Bethlehem. Die jungen Menschen wandern aus, weil sie gut ausgebildet sind, aber hier keine Arbeit finden.“
Voraussetzung dafür, den Exodus der Christen aufzuhalten, ist für Baboun ein Friedensprozess mit Israel. „Ich glaube an eine Zwei-Staaten-Lösung. Wenn die Israelis an Versöhnung glauben, dann auch ich. Sie müssen anerkennen, dass die Palästinenser Teil der Völkergemeinschaft sind und in einem Staat in Freiheit und Unabhängigkeit leben wollen. Ich sage unaufhörlich: Lasst uns Frieden schaffen!“