Essen. Prof. Mirko Trilling, Virologe an der Essener Uniklinik, mahnt im Interview mit Blick auf den Herbst zu Vorsicht. Und rät zur Impfung.
In dieser Woche enden die Schulferien, im nächsten Monat beginnt der Herbst – der dritte der Pandemie. Viele Menschen sind Corona-müde, andere fürchten sich vor der nächsten Welle oder wieder neuen Virus-Varianten. Die Schlagzeilen bestimmt Covid-19 nicht mehr, „harmlos“, sagt Prof. Mirko Trilling vom Institut für Virologie der Essener Universitätsmedizin, ist das Virus deswegen aber längst noch nicht.
Die Sieben-Tage-Inzidenzen in NRW sinken gerade wieder, sind aber 20-mal höher als vor einem Jahr. Aus virologischer Sicht: Wo stehen wir gerade?
Trilling: Tatsächlich liegt der R-Wert aktuell unter 1, das heißt es gibt weniger Sars-CoV-2-Infektionen. Das ist gut. Doch die Anzahl der Fälle ist, wie Sie sagen, noch immer sehr hoch, genau wie die Zahl der Hospitalisierungen. Die Situation ist nicht kritisch, aber es liegen leider noch immer zu viele Menschen mit Covid-19 im Krankenhaus, auf den Intensivstationen, müssen beatmet werden oder sterben gar.
Gleichzeitig erkranken auch immer mehr Krankenhaus-Beschäftigte an Covid-19.…
Für die Pflege, für Ärzte und Ärztinnen ist es vor allem schwer, über eine so lange Zeit auszuhalten, dass sie es oft mit Patienten zu tun haben, deren schwere Erkrankung hätte verhindert werden können, durch Impfung oder Booster. Jeder findet seine eigene Lösung, damit umzugehen. Aber wenn Patienten oder Patientinnen falschen Aussagen von Impfgegnern aufgesessen sind und es dann zu schweren Verläufen kommt, fühlt sich das natürlich furchtbar für die Menschen an, die sich aufopferungsvoll um die Person kümmern.
Ist es inzwischen nicht so, dass viele „Corona-Patienten“ gar nicht wegen, sondern lediglich mit Corona (und vorrangig mit einem ganz anderen Problem) in die Klinik kommen – der Positiv-Befund erst bei der Routine-Testung auffällt?
Natürlich gibt es solche Fälle. Es wäre aber eine gefährliche Illusion, zu glauben, dass das die Regel ist, auch wenn sich einige vielleicht gern vormachen, dass Covid-19 inzwischen harmlos ist. Studien zur Übersterblichkeit zeigen: Das Virus zirkuliert und führt zu Todesopfern. Und Untersuchungen bestätigen, dass der Großteil der Menschen, die mit Covid-19 hospitalisiert werden, auch durch Sars-CoV-2 geschädigt werden. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, an Long-Covid zu erkranken. In einigen Studien etwa genauso groß wie die Chance, beim Würfeln eine „1“ zu würfeln.
Welche Parameter taugen überhaupt noch zur Beurteilung der Lage? Die Inzidenzwerte sind es ja nicht mehr.
Da gehe ich nicht mit. Ein einziger Indikator kann in einer komplexen Situation natürlich nicht alleine alles erklären. Wir berücksichtigen deshalb verschiedene Faktoren. Es macht einen Riesenunterschied, ob ein alter oder ein junger, ein geimpfter oder ein ungeimpfter Mensch sich infiziert. Das Gute ist doch, dass jeder in dieser Pandemie Zugriff auf alle wichtigen Parameter hat. Mit wenig Mühe kann man sich also selbst ein informiertes Bild verschaffen – aber eben nicht mit einem einzigen Wert. Natürlich ließe sich die Datenlage verbessern, so könnten Routine-Abwasseruntersuchungen helfen, die Lage zu klären – insbesondere in Bereichen, in denen die Bevölkerung nur eingeschränkt auskunftsfreudig ist.
Was erwartet uns im Herbst – nach der ersten Sommerwelle der Pandemie: vielleicht sogar eine entspanntere Zeit als in den Vorjahren?
Solche Voraussagen sind fast unmöglich, Sars-CoV-2 verändert sich ja rasant. Falls das Virus sich nicht an die inzwischen breite Immunität in der Bevölkerung anpassen kann, könnte die Sommerwelle im Herbst über die Immunität tatsächlich für eine gewisse Ruhe sorgen. Es könnte aber leider auch sein, dass wir es im Herbst wieder mit neuen Varianten zu tun haben und wir selbst sind dann jahreszeitlich bedingt wieder anfälliger. Ich glaube ehrlich gesagt leider nicht, dass die Herbst-/Winterwelle ausbleibt.
Kommende Woche beginnt in NRW wieder der Schul-Unterricht – in Präsenz, ohne Maskenpflicht…
Jüngere kommen mit Covid-19 üblicherweise besser klar. Und die Kinder brauchen die Schule, das ist ganz wichtig. Andererseits ist es offensichtlich ein Ort, wo Viren übertragen werden können. In meinen Augen wäre es aber unfair, zu sagen: Die Kinder müssen jetzt wieder Masken tragen, wenn die Älteren es in der engen Innenraumöffentlichkeit selbst nicht tun.
Seit Juli sind Bürgertests nicht mehr grundsätzlich kostenlos, auch die Isolationspflicht wurde längst auf fünf Tage verkürzt – spüren Sie Auswirkungen?
Das ist schwer zu sagen, obwohl wir uns das selbst anschauen. Fest steht: Nach fünf Tagen sind die meisten Menschen noch nicht wieder virusfrei. Längere Isolationszeiten würden die Sicherheit erhöhen. Es ist aber eine Abwägung zwischen Sicherheitsbedürfnissen und dem Wunsch nach baldiger Normalität. Bezüglich der Tests ist es bedauerlich, dass wir weniger wichtige Informationen erhalten. Ich verstehe aber auch den erheblichen Kostendruck.
Kassenärztechef Gassen fordert sogar ein Ende der Isolationspflicht für Infizierte, Gesundheitsminister Lauterbach ist entschieden dagegen. Was sagen Sie?
Wer Symptome einer Atemwegserkrankung hat, sollte aus meiner Sicht zu Hause bleiben. Man tut seinem Arbeitgeber keinen Gefallen, wenn man zur Arbeit kommt. Selbst wenn es „nur“ eine andere Infektion ist, steckt man doch andere an, die dann ausfallen. Meiner Ansicht nach sollte man aber auch dann nicht arbeiten gehen, wenn man „nur“ einen positiven Antigentest hat, da diese Tests erst ab einer recht hohen – potentiell infektiösen – Viruslast anschlagen. Das gilt vor allem für Menschen, die es beruflich mit Alten und Kranken zu tun haben. Aber auch im privaten Umfeld: Vor einem größeren Fest mit vielen engen Kontakten macht es natürlich durchaus Sinn sich zu testen oder testen zu lassen, wenn man seine Lieben nicht anstecken möchte.
Stichwort „einrichtungsbezogene Impfpflicht“: Es gab viel Kritik schon im Vorfeld, aber bislang wenig Konsequenzen für ungeimpfte Klinik- oder Heim-Mitarbeiter. Ende des Jahres soll sie nun womöglich wieder abgeschafft werden. Viel Lärm um nichts?
Ich fand diese Diskussion sehr hilfreich. In meinen Augen sind die Covid-19-Schutzimpfungen für Beschäftigte in Kliniken oder Altenheimen eine Selbstverständlichkeit. Zumal es sich ja nicht um erste Experimente, sondern um eine sehr sichere, zugelassene und etablierte Impfung handelt, die weltweit bereits Milliarden Male erfolgreich verabreicht wurden. Es war wichtig, dass in den Einrichtungen mit denen gesprochen wurde, die Impfungen ablehnen, dass die Betroffenen sich mit dem Thema auseinandersetzen mussten. Das sagt meines Erachtens viel über das eigene Berufsverständnis aus, wenn man zugelassene und empfohlene Impfungen ablehnt undProf.
Thema Impfung: Es sind längst nicht so viele Menschen vollständig geimpft, wie erwartet. Mit welchem Argument kann man die, die noch ungeimpft sind, locken?
Die Covid-19-Impfungen sind ein Riesenerfolg, die weltweit bereits fast 20 Millionen Leben gerettet haben. Daher kann man absolut nicht sagen, dass sie hinter den Erwartungen bleiben. Wir hatten Glück, dass sie anfangs sogar Infektionen verhindert haben. Dann passte sich das Virus an und schaffte es, auch Geimpfte anzustecken. Aber die sind durch die Impfungen vor den allermeisten schweren Verläufen geschützt. Das Rundum-Sorglos-Paket „Dreimal geimpft, nie wieder infiziert“ hätten wir gerne, das gibt es aber derzeit leider nicht.
Stimmt es denn tatsächlich, dass der Verlauf einer Erkrankung bei Geimpften milder ist als bei Ungeimpften? Sind nicht vielleicht nur die Varianten des Virus jetzt harmloser als zu Beginn der Pandemie?
Das Problem ist, dass dieses Thema immer schwarz-weiß diskutiert wird. Als Delta noch die vorherrschende Variante war, hatte der einzelne eine höhere Gefahr, schwer zu erkranken. Omikron ist dagegen viel infektiöser, auf die Gesellschaft bezogen daher auch absolut nicht harmlos. Deswegen macht es durchaus Sinn, sich noch jetzt impfen zu lassen.
Für wen ist die vierte Impfung sinnvoll? Die Europäische Arzneimittelagentur empfiehlt sie neben den Risikogruppen und denen, die damit zu haben, grundsätzlich allen ab 60, die Ständige Impfkommission erst ab 70.
Immungeschwächten, Vorerkrankten, Betagten und berufsbezogen rate ich ganz klar zur vierten Impfung. Auch meiner Mutter, die noch nicht 70 ist, habe ich sie empfohlen. Es kann gut sein, dass die Stiko ihre Einschätzung im Angesicht neuer Studien noch ändert. Bis dahin sollte man meines Erachtens pragmatisch bleiben und mit seinem Hausarzt sprechen. Die niedergelassenen Mediziner haben ein gutes Gespür dafür, wer von der Impfung besonders profitiert.
Ist es schlauer, auf ein an Omikron angepasstes Vakzin zu warten, als sich jetzt sofort die zweite Auffrischung zu holen?
Schwierige Frage. Das kann man nicht für alle gleich beantworten. Wer weiß, wann einem ein solcher Impfstoff angeboten wird, und welche Varianten wann wo und in welchem Umfang kursieren? Je anfälliger man ist, desto rascher sollte man mit seinem Arzt über den zweiten Booster sprechen.
US-Forscher haben universelle Antikörper entdeckt, die angeblich gegen alle (bisherigen und zukünftigen) Corona-Virus-Varianten wirken – was ist davon zu halten?
Das sind sehr wichtige Studien. Ein Antikörperpräparat ist jedoch keine Wunderwaffe, die man mal eben morgens zuhause schluckt. Antikörper sind sehr teure Medikamente und müssten unter ärztlicher Aufsicht verabreicht werden.
Am 23. September läuft das Bundesinfektionsschutzgesetz aus, die Eckdaten des neuen sollen bereits feststehen. Wie sähe aus virologischer Sicht ein solides Konzept für den nächsten Corona-Herbst aus?
Bürger und Bürgerinnen mit Symptomen sollten zuhause bleiben, erst nach zwei symptomfreien Tagen sollten sie wieder in die Öffentlichkeit gehen; wer mit Kranken und Alten arbeitet, sollte sich regelmäßig testen; abhängig von der Inzidenz sollten in belebten, öffentlichen Innenräumen richtig sitzende Masken, idealerweise FFP2-Masken, getragen werden. Und noch mehr Menschen sollten sich vollständig impfen lassen.
Ist es richtig, Lockdowns und Schulschließungen schon jetzt kategorisch auszuschließen?
Bliebe es bei den aktuellen Omikron-Varianten bräuchte es das höchstwahrscheinlich nicht. Wenn aber erneut eine Überlastung unseres Gesundheitssystems verhindert werden muss, etwa weil neue Varianten sich sehr stark verbreiten und dabei sehr krank machen, also so infektiös wie BA.5 sind, gleichzeitig aber so schwere Verläufe wie Delta verursachen: Dann kann man solche Maßnahmen leider nicht vorab unbesehen ausschließen.
Für viele Menschen fühlt sich dieser Sommer trotz der hohen Inzidenzen wieder wie ein fast normaler an. Wird der nächste einer ganz ohne Corona sein?
Ich würde zur Vorsicht raten. Der aktuelle Sommer ist von anderen globalen Krisen geprägt. Ein normaler Sommer ist es aus virologischer Sicht aber bestimmt nicht, jeder bekommt doch mit, wie viele Menschen erkranken und auch, wie schlecht es manchem damit geht. Irgendwann aber werden die Allermeisten Kontakt zu dem Virus gehabt haben und eine ausreichende Immunität entwickelt haben. Aber ob das schon im nächsten Sommer der Fall sein wird, kann ich leider nicht prognostizieren. Man muss ja auch wissen: Je mehr Infektionen wir zulassen, desto schneller passt sich das Virus an unser Immunsystem an. Das gilt übrigens weltweit. Im eigenen Interesse müssen wir deshalb global vorsorgen.
>>>Info: Zahlen zur Pandemie
Weltweit sind seit Beginn der Pandemie über 577 Millionen Covid19-Infektionen und 6,4 Millionen Corona-Tote gezählt worden. Bundesweit starben fast 145.000 Menschen, in NRW bis Montag genau 26.371 (bei insgesamt 6,3 Millionen Fällen).
Die aktuelle Sieben-Tage-Inzidenz gibt das RKI für NRW mit 426,3 an (bundesweit: 538,9); vor einem Jahr lag sie bei rund 25. Am gestrigen Montag wurden im Land 307 Corona-Patienten auf Intensivstationen behandelt; Ende Juli 2021 waren es 77 – und auf dem Höhepunkt der Pandemie 1161.
Fast 184 Millionen Impfungen sind inzwischen in NRW verabreicht worden, 76,2 Prozent der Bevölkerung haben vollständigen Impfschutz, 61,9 Prozent auch schon eine Booster-Impfung erhalten.