Essen. „Wir treten mit Omikron in eine neue Phase der Pandemie ein, denken aber in alten Bahnen“, so Jochen Werner, Uni-Klinikum Essen. Das hat Folgen.

Über 200.000 Neuinfektionen täglich, Sieben-Tage-Inzidenzen über 1000 – die Corona-Zahlen explodieren gerade. Doch auf den Intensivstationen im Land ist die Lage ruhiger als in früheren Wellen. Derzeit werden NRW-weit gut 420 Patienten intensivmedizinisch versorgt, ein Jahr zuvor waren es fast doppelt so viele, im April 2021 sogar 1155. Prof. Jochen Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen, kritisiert „Zahlenhypnose“ und „Alarmismus“ – sie verdeckten, sagt er, die tatsächlichen Probleme.

Prof. Werner, Sie plädieren für ein Ende des „Panikmodus“, für mehr Pragmatismus in der Pandemie – ist die Lage in den Kliniken so entspannt?

Werner: Entspannt ist sie nicht, in keinem Krankenhaus. Wir versorgen aktuell (Stand: 28.1.22) 61 positiv getestete Patienten und Patientinnen, 21 davon auf Intensivstationen. Es waren in zweiter und dritter Welle schon mal 150… Längst sind zudem nicht mehr alle positiv Getesteten an Covid erkrankt. Bei etwa 30 Prozent, Tendenz steigend, ist der Positivtest ein Zufallsbefund; sie kommen mit Herzinfarkt, Schlaganfall oder anderen Problemen, erhalten die Routine-PCR-Test und sind überraschend positiv.

Als die Delta-Variante die dominierende war, war das anders?

Noch vor Weihnachten war der weit überwiegende Anteil der bei uns stationär Versorgten, positiv Getesteten an Covid-19 erkranktauch Jüngere davon betroffen. Omikron verhält sich ganz anders. Wir treten gerade in eine völlig neue Phase der Pandemie ein, denken aber noch in den alten Bahnen und starren auf das tägliche RKI-Zahlenwerk.

Prof. Jochen Werner ist ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen. Er glaubt: Die allermeisten Corona-Infizierten gehören nicht mehr ins Krankenhaus.
Prof. Jochen Werner ist ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen. Er glaubt: Die allermeisten Corona-Infizierten gehören nicht mehr ins Krankenhaus. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Was genau sollte überdacht werden?

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Vor zwei Jahren, als der erste Coronafall in Deutschland bekannt wurde, fokussierten wir uns mit den schlimmen Bildern aus Bergamo vor Augen ganz auf die Situation in den Krankenhäusern, auf die Pflege vor allem. Ein Teil der Menschen erkrankte schwer, vor allem Ältere starben. Mit Omikron wurden die Verläufe deutlich milder, die allermeisten Betroffenen gehören nicht mehr ins Krankenhaus. Hinzu kommen antivirale Tabletten, die helfen werden, auch Risikopatienten aus den Kliniken rauszuhalten. Diese positive Entwicklung wird belastet von einer steigenden Anzahl an erkrankten Beschäftigten im Gesundheitswesen – in den Kliniken, aber auch in den Hausarztpraxen, die einmal mehr an vorderster Front Ansprechpartner für ihre Patienten sind. Aber auch da gibt es Ausfälle. Das gefährdet ein Versorgungssystem, und damit Patienten, die dringende Versorgung benötigen.

Was heißt das konkret?

Unsere Notaufnahme läuft über, in der ZNA verdoppelt sich die Zahl der Omikron-Fälle alle acht Tage, das dürfte sich verkürzen. Die Belastung ist durch Störung auch der anderen Krankenhäuser immens. Hinzu kommt: Immer häufiger machen sich Patienten mit nur leichten Symptomen auf den Weg zu uns, kommen in Anbetracht der nach Dringlichkeit priorisierten Behandlungsvorgabe nicht zur Untersuchung und sind enttäuscht.

Müssen jetzt erneut, wie in früheren Wellen, Operationen verschoben werden?

In den letzten vier Jahren haben wir wegen Streik und Corona tausende Operationen verschoben. Das belastet uns noch heute. Wir haben aber auch zwei Jahre Erfahrung mit der Pandemie, sprechen keinen pauschalen „Aufnahmestopp“ mehr aus, setzten auf definierte Bettensperrungen zur Fast Track Belegung über unser Notfallzentrum für positiv und für negativ getestete Patienten. Dies betrifft dann vor allem andernorts nicht mehr versorgbare Patienten. Natürlich müssen auch hierzu geplante Aufnahmen abgesagt werden, aber eben nur ein Teil. So versuchen wir, die schwer an Covid-19 erkrankten Patienten weiterhin angemessen versorgen zu können, nicht minder aber auch unsere vielen anderen Patienten.


Stichwort „Einrichtungsbezogene Impfpflicht“. Bis 16. März müssen alle 10.000 Mitarbeiter der Essener Universitätsmedizin ihren Immunstatus nachweisen. Tun sie es nicht, droht ein Beschäftigungsverbot. Verschärft das die Lage?

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98 Prozent sind geimpft. Und ich bin froh um jede Gesprächsmöglichkeit mit den anderen. Das sind meist keine wirklichen Verweigerer, sondern Zweifler, deren Gründe man respektieren muss. Viele sagen, sie wollen keinen mRNA- und auch keinen Vektor-Impfstoff. Sie warten auf den Impfstoff von Novavax, der ab Mitte Februar ausgeliefert sein sollte. Wir brauchen ihn schnell und ein Signal von Land oder Bund, dass bleiben darf, wer mit der Impfung begonnen hat, denn bis 16. März werden diese Menschen keine vollständige Immunisierung haben. Die verzögerte Bereitstellung dieses Impfstoffes kann man ihnen nicht anlasten.

Die Gesundheitsämter sind schon jetzt überlastet, wie sollen sie überhaupt diese neue zusätzliche Aufgabe noch stemmen?

Ich weiß es nicht und erinnere mich daran, dass es einst hieß, bei Inzidenzen über 50 werde die Kontaktverfolgung unmöglich – jetzt sind wir bei über 1000. Ich habe allergrößten Respekt vor der Leistung der Ämter, die unfassbar beansprucht sind – und das personell unterbesetzt in einem digital absolut rückständigen Land. Auch sie sollten stärker in den Fokus unserer Wertschätzung rücken und besser ausgestattet werden.

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Die Quarantäneregeln in NRW wurden gerade gelockert. Hilft das?

Wenn die Not größer wird, muss man sogar darüber nachdenken, ob die Freitestung mittels PCR-Test die einzig mögliche ist. Warum soll jemand, der zwei Tage symptomfrei ist und zweimal mittels ausgewiesenem Antigenschnelltest negativ getestet wurde, jemand, der nichts mit immunsupprimierten Patienten zu tun hat oder anderen Hochrisiko-Bereichen – warum soll der nicht wieder im Krankenhaus arbeiten dürfen? Aber wie gesagt, ich spreche von echter Notlage.

Dänemark und Großbritannien verabschieden sich gerade ganz von allen Coronaschutzmaßnahmen...

Ob das richtig ist, wird man in ein paar Jahren bewerten können. Es gibt aber gute Gründe für diesen Weg. Omikron könnte der letzte große Schub der Pandemie sein.