Ruhrgebiet. Hart durchgreifen will die Politik gegen die Randalier der Silvesternacht. Doch das ist viel leichter gesagt als getan
„Konsequenzen“ ist ein Wort, das Politiker in diesen Tagen oft nutzen, wenn es um die Ereignisse in der Silvesternacht geht. Bundesinnenministerin Nancy Faeser vertraut darauf, dass die Täter, die Polizei und Feuerwehr in mehreren Städten des Ruhrgebiets mit Feuerwerkskörpern angegriffen haben, „konsequent ermittelt“ werden. NRW-Innenminister Herbert Reul geht noch einen Schritt weiter und fordert eine schnelle Bestrafung der überführten Tatverdächtigen. Das Problem aber ist, dass es bisher kaum „überführte Tatverdächtige“ gibt. Und einiges deutet darauf hin, dass sich das nicht ändern wird.
Handy-Videos sollen ausgewertet werden
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Fragt man herum in den Polizeipressestellen des Landes, dann heißt es offiziell: „Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren.“ In einigen Behörden sind mittlerweile Handy-Videos aus der Tatnacht eingegangen, die ausgewertet werden sollen. Inoffiziell aber räumen Beamte ein: „Da wird in den meisten Fällen nicht viel bei rauskommen.“
Die Skepsis kommt nicht von ungefähr und beruht auf Erfahrung vor allem aus der Silvesternacht 2015, in der auf der Kölner Domplatte mehrere tausend, überwiegend aus Nordafrika stammende Männer feierten und viele von ihnen Handys und Brieftaschen stahlen oder vorbeikommende Frauen sexuell belästigten. Die Kölner Polizei richtete damals umgehend eine Sonderkommission unter dem Namen „Ermittlungsgruppe Neujahr“ ein, in der zeitweise mehr als 100 Beamte arbeiteten. Speziell auf Gesichtserkennung geschulte Experten von Scotland Yard, sogenannte Super Recognizer, sichteten viele Stunden Videomaterial, die Zahl der überführten Täter blieb überschaubar.
Genau Zahl der Verdächtigen ist unbekannt
Insgesamt hatten laut Staatsanwaltschaft 1304 Personen Strafanzeigen erstattet, gegen 290 Personen wurde ermittelt. 52 von ihnen wurden angeklagt, 32 Täter wurden verurteilt – meist wegen Diebstahl, Raub und Hehlerei. Den mehr als 600 mutmaßlichen Opfern von Sexualstraftaten stehen gerade einmal drei überführte Sexualstraftäter gegenüber. Zwei von ihnen kamen mit Bewährungsstrafen davon.
Köln ist kein Einzelfall. Silvester 2020/2021 zerlegten geschätzt 50 junge Männer der Altenessener Marktplatz. Acht Verdächtige konnten die Polizei ermitteln, vor Gericht aber stand bisher niemand.
Wie viele Tatverdächtige für Angriffe auf Polizei und Feuerwehr es nach dem aktuellen Jahreswechsel gibt, ist unklar. In einer ersten Bilanz spricht die Polizei davon, dass landesweit 25 Personen vorläufig festgenommen, 233 Personen in Gewahrsam genommen wurden.
Videoüberwachung ohne Anlass ist verboten
Die meisten davon, ist aus den Pressestellen zu hören, seien allerdings wegen „normaler“ Sachbeschädigung, Beleidigung, Körperverletzung oder Diebstahl in Sicherungsgewahrsam gekommen. Oder sie sind im Schutzgewahrsam gelandet, weil sie sich nach übermäßigem Alkoholgenuss nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Beiden Varianten gemeinsam ist, dass sie meist nicht lange andauern. Wie kurz sie auch sind, anschließend hat die Polizei die Personalien.
Was sie im jüngsten Fall bisher kaum hat, sind Beweise für Böller- oder Raketenattacken. Eine Videoüberwachung öffentlicher Plätze ist in Deutschland verboten. Und die Bodycams, die einige Beamte bereits tragen, „dienen der Deeskalation und nicht der Beweissicherung“, erklärt ein Polizeisprecher.
Bleiben die Handy-Filmchen, die Anwohner oder Feiernde bei der Polizei einreichen oder ins Internet stellen. Schaut man sich Beispiele aus Essen oder Bochum in den sozialen Netzwerken an, ahnt man, wie schwierig es wird, auf den dunklen und verwackelten Bildern mit teils maskierten Menschen jemanden zu identifizieren.
In vielen Städten fehlen der Polizei Kapazitäten
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Und mit der reinen Identifizierung ist es nicht getan, wie der Essener Strafverteidiger Volker Schröder klarstellt. „In einer Menge zu stehen, ist ja nicht strafbar.“ Für einen gerichtsfesten Beweis müsse man auf dem Video schon sehen, wie ein Beschuldigter einen Böller wirft, die Kamera dann die Flugbahn verfolgt und auch zeigt, wie genau dieser Böller einen anderen Menschen trifft. „Das wäre aber ein echter Glücksfall“, sagt Schröder.
Natürlich lässt sich die Filmqualität verbessern, kann man in Zweifelsfällen Bewegungsgutachten von Verdächtigen erstellen. „Aber“, ist der Anwalt überzeugt, „die Schwere der Tat reicht in den meisten Fällen nicht aus, um den ganzen Ermittlungsapparat zu aktivieren.“ Schon das zu erwartende Strafmaß würde „den Aufwand nicht rechtfertigen“. Außerdem, so Schröder, habe die Polizei „gar nicht die Kapazitäten für solche Ermittlungen“.
Kim Freigang, Sprecher der Düsseldorfer Polizei, warnt die Werfer von Böllern dennoch. Prahlerei im Netz, plötzlich auftauchende Videos in hoher Auflösung oder verstärkter Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der Polizei - „niemand“, sagt Freigang, „sollte sich zu sicher sein, dass wir ihn nicht doch erwischen.“